Dickmann nickte.»Meine Kleinste ist krank. Grippe. Fieber. Aber Fieber ist bei Kindern nicht schlimm, was?«
Er sah Steiner dringend an. Der schüttelte den Kopf.»Rapider Heilprozeß, sonst nichts.«
»Ich will heute mal früher nach Hause gehen.«
Steiner bestellte sich einen Kognak.»Baby«, sagte er zu Kern,»auch einen?«
»Hör zu, Steiner…«, begann Kern.
Steiner winkte ab.»Rede nicht! Weihnachtsgeschenke, die mich nichts kosten. Ihr habt es ja gesehen. Einen Kognak, Ruth? Ja, was?«
»Ja.«
»Neue Mäntel! Arbeit in Sicht!«Kern trank seinen Kognak.»Das Dasein fängt an, interessant zu werden.«
»Täusche dich nicht!«grinste Steiner.»Später, wenn du mal Arbeit genug hast, wird dir die Zeit, wo du nicht arbeiten durftest, als der interessantere Teil deines Lebens vorkommen. Wunderbare Geschichte für Enkel, die um die Knie spielen. Damals in Paris…«
Dickmann kam vorüber. Er grüßte müde und ging dem Ausgang zu.
»War mal sozialdemokratischer Bürgermeister.«Steiner sah ihm nach.»Fünf Kinder. Frau tot. Guter Bettler. Mit Würde. Weiß alles. Etwas zu zarte Seele, wie oft bei Sozialdemokraten. Sind deshalb so schlechte Politiker.«
Das Café begann sich zu füllen. Die Schläfer kamen, um Eckplätze für die Nacht zu ergattern. Steiner trank seinen Kognak aus.»Der Wirt hier ist großartig. Er läßt alles schlafen, was Platz findet. Umsonst. Oder für eine Tasse Kaffee. Wenn diese Buden nicht existierten, sähe es für manche Leute böse aus.«
Er stand auf.»Wollen gehen, Kinder.«
Sie gingen hinaus. Es war windig und kalt. Ruth schlug den Waschbärkragen ihres neuen Mantels hoch und zog ihn eng um sich zusammen. Sie lächelte Steiner zu. Er nickte.»Wärme, kleine Ruth! Alles auf der Welt hängt nur von einem bißchen Wärme ab.«
Er winkte einer alten Blumenfrau, die vorüberschlurfte, zu. Sie trottete heran.»Veilchen«, krächzte sie.»Frische Rivieraveilchen.«
»Welch eine Stadt! Veilchen mitten auf der Straße im Dezember!«Steiner nahm einen Strauß und gab ihn Ruth.»Violettes Glück! Unnützes Blühen! Unnütze Dinge! Geben übrigens die meiste Wärme!«Er zwinkerte Kern zu.»Eine Lehre fürs Leben, würde Marill sagen.«
18
Sie saßen in der Kantine der Weltausstellung. Es war Zahltag gewesen. Kern legte die dünnen Papierscheine rund um seinen Teller.»Zweihundertsiebzig Francs!«sagte er.»In einer Woche verdient! Und das schon zum drittenmal! Es ist ein glattes Märchen.«
Marill betrachtete ihn eine Weile amüsiert. Dann hob er sein Glas Steiner entgegen.»Wir wollen einen Schluck des Abscheus auf das Papier trinken, lieber Huber! Es ist erstaunlich, was für eine Macht es über den Menschen bekommen hat! Unsere Urväter zitterten vor Donner und Blitz, vor Tigern und Erdbeben – unsere Mittelväter vor Schwertern, Räubern, Seuchen und Gott – wir aber zittern vor dem bedruckten Papier – sei es als Geldschein oder als Paß. Der Neandertaler wurde mit der Keule erschlagen; der Römer mit dem Schwert; der Mensch des Mittelalters mit der Pest – uns aber kann man schon mit einem Stück Papier auslöschen.«
»Oder zum Leben bringen«, ergänzte Kern und betrachtete die Noten der Bank von Frankreich rund um seinen Teller.
Marill sah ihn schief an.»Was sagst du zu diesem Knaben?«fragte er Steiner.»Macht sich, was?«
»Und wie! Er gedeiht im rauhen Wind der Fremde. Mordet sogar schon Pointen.«
»Ich kannte ihn noch als Kind«, erklärte Marill.»Zart und trostbedürftig. Vor ein paar Monaten.«
Steiner lachte.»Er lebt in einem labilen Jahrhundert. Da kommt man leicht um – aber man wächst auch schnell.«
Marill nahm einen Schluck des leichten, roten Weins.»Ein labiles Jahrhundert!«wiederholte er.»Die große Unruhe! Ludwig Kern, ein junger Wandale der zweiten Völkerwanderung.«
»Stimmt nicht«, erwiderte Kern.»Ich bin ein junger Halbhebräer beim zweiten Auszug aus Ägypten!«
Marill sah Steiner anklagend an.»Dein Schüler, Huber«, sagte er.
»Nein – das Aphoristische hat er von dir, Marill! Im übrigen erhöht ein sicherer Wochenlohn den Witz jedes Menschen. Es lebe die Heimkehr der verlorenen Söhne zum Gehalt!«Steiner wandte sich an Kern.»Steck das Geld in die Tasche, Baby, sonst fliegt es weg. Geld siebt das Licht nicht.«
»Ich werde es dir geben«, sagte Kern.»Dann ist es gleich weg. Du bekommst ohnehin noch viel mehr von mir zurück.«
»Untersteh dich! Um Geld zurückzunehmen, bin ich noch lange nicht reich genug!«
Kern sah ihn an. Dann steckte er das Geld in die Tasche.»Wie lange sind heute die Geschäfte offen?«fragte er.
»Warum?«
»Heute ist doch Silvester.«
»Bis sieben, Kern«, sagte Marill.»Wollen Sie Schnaps einkaufen für heute abend? Der ist hier in der Kantine billiger. Ausgezeichneter Martinique-Rum.«
»Nein, keinen Schnaps.«
»Aha! Sie wollen dann anscheinend wohl am letzten Tage des Jahres auf den Pfaden bürgerlicher Sentiments wandeln, was?«
»So ungefähr.«Kern stand auf.»Ich will zu Salomon Levi. Vielleicht ist er heute auch sentimental und hat labilere Preise.«
»In labilen Jahrhunderten steigen die Preise«, erwiderte Marill.»Aber immer los, Kern! Gewohnheit ist nichts – Impuls alles! Und vergessen Sie über dem Schachern nicht, um acht Uhr ist das Abendessen der alten Krieger der Emigration bei der Mère Margot!«
SALOMON LEVI WAR ein behendes, wieselartiges Männchen mit einem schütteren Ziegenbart. Er hauste in einem dunklen, gewölbeartigen Raum, zwischen Uhren, Musikinstrumenten, gebrauchten Teppichen, Ölgemälden, Hausrat, Gipszwergen und Porzellantieren. Im Schaufenster waren billige Imitationen, künstliche Perlen, silbergefaßter alter Schmuck, Taschenuhren und alte Münzen sinnlos durcheinander aufgestapelt.
Levi erkannte Kern sofort wieder. Er hatte ein Gedächtnis wie ein Hauptbuch und schon manches gute Geschäft dadurch gemacht.
»Was gibt’s?«fragte er sofort kampfbereit, weil er ohne weiteres annahm, Kern wollte wieder etwas verkaufen.»Sie kommen zu einer schlechten Zeit!«
»Wieso? Haben Sie den Ring schon verkauft?«
»Verkauft, verkauft?«jammerte Levi.»Verkauft sagen Sie, wenn ich mich nicht verhört habe. Oder habe ich mich geirrt?«
»Nein.«
»Junger Mann«, zeterte Levi weiter,»lesen Sie denn keine Zeitungen? Leben Sie auf dem Mond und wissen Sie nicht, was in der Welt vorgeht? Verkauft! So alten Plunder! Verkauft! Wie Sie das sagen, so großmächtig dahin, wie der Rothschild. Wissen Se, was dazu gehört, daß mer was verkauft?«Er machte eine Kunstpause und erklärte dann pathetisch:»Daß ein femder Mensch kommt und was haben will und daß er dann seine Börse aus der Tasche zieht…«, Levi holte ein Portemonnaie hervor,»sie öffnet«- er öffnet es -»und bares, koscheres Geld herausnimmt«- er zückte einen Zehnfrankenschein -,»es hinlegt«- der Schein wurde auf dem Tisch glattgestrichen -»und dann die Hauptsache«- Levis Stimme kletterte ins Falsett -,»sich dauernd von ihm trennt!«Levi steckte den Schein wieder ein.»Und wofür? Für irgendeinen Fummel, irgend’ne Sache. Bares, koscheres Geld! Daß ich nicht lache! Nur Verrückte und Gojim machen so was. Oder ich Unglückseliger mit meiner Leidenschaft fürs Geschäft. Also was haben Sie diesmal? Viel kann ich nicht geben. Ja, vor vier Wochen, das waren noch Zeiten!«
»Ich will nichts verkaufen, Herr Levi. Ich möchte den Ring wiederkaufen.«
»Was?«Levi sperrte einen Moment den Mund auf, wie eine hungrige Goldammer im Nest. Der Bart war das Nest.»Ah, ich weiß schon, tauschen wollen Se. Nee, junger Mann, das kenn’ ich! Ich habe vor ’ner Woche noch Pech damit gehabt, ’ne Uhr, gut, sie ging nicht mehr, aber Uhr ist Uhr schließlich, gegen ein bronzenes Tischschreibzeug und einen Füllfederhalter mit Goldspitze. Was soll ich Ihnen sagen? ’reingelegt haben se mich vertrauensseligen Narren – der Füllfederhalter funktioniert nicht. Gut, die Uhr geht auch höchstens ä Viertelstund, aber es is doch längst nicht dasselbe, wenn ä Uhr nich geht oder ä Füllhalter. Ä Uhr bleibt ä Uhr trotzdem, aber ä Füllhalter, der leer ist, haben Sie Gedanken? Das ist doch ä Widersinn, das is doch, als war’ er gar nich da. Was wollten Se denn tauschen?«