DIE SCHAUSPIELERIN BARBARA Klein saß in einer Ecke an einem Tisch in der Katakombe. Es war spät, und nur zwei elektrische Birnen über den Durchgangstüren brannten noch. Sie saß in einem Sessel vor einem Palmenarrangement, und wenn sie sich zurücklehnte, griffen die Palmblätter wie starre Hände in ihr Haar. Sie fühlte es jedesmal und zuckte mit dem Kopf – aber sie hatte nicht mehr die Kraft, aufzustehen und sich anderswo hinzusetzen.
Von der Küche her kam der Lärm von Geschirr und die jammernde Akkordeonmusik eines Radios. Station Toulouse, dachte Barbara Klein. Station Toulouse. Ein neues Jahr. Ich bin müde. Station Toulouse. Ich will nicht mehr leben. Station Toulouse. Was wußten sie alle davon, wie müde man sein konnte.
Ich bin nicht betrunken, dachte sie. Meine Gedanken sind nur schon langsamer. Langsam wie die Fliegen im Winter, in denen der Tod wächst. Er wächst wie ein Baum in mir. Er wächst wie ein Baum von Adern, die allmählich erfrieren. Jemand hat mir ein Glas Kognak gegeben. Der, den sie Marill nennen, oder der andere, der dann weggegangen ist. Ich sollte warm sein. Aber ich bin nicht einmal kalt. Ich fühle mich nur nicht mehr.
Sie saß da und sah wie durch eine Glaswand jemand auf sich zukommen. Er kam näher, und sie sah ihn nun genauer; aber es war immer noch Glas dazwischen. Sie erkannte ihn jetzt; es war der, der neben ihr gesessen hatte im Zimmer von Edith Rosenfeld. Er hatte ein scheues, undeutliches Gesicht mit großen Brillengläsern und einem verzogenen Mund gehabt und unruhige Hände und er hinkte – aber jetzt hinkte er durch das Glas und hinter ihm schlug es weich und schillernd wieder zusammen wie ein Gelee aus flüssigem Glas.
Es dauerte lange, ehe sie etwas von dem verstand, was er sagte. Sie sah ihn weggehen mit seinem hinkenden Gang, als schwimme er, und sie sah ihn wiederkommen und neben sich sitzen, und sie trank, was er ihr gab, und sie fühlte nicht, daß sie es schluckte. In ihren Ohren war ein sanftes Brausen und dazwischen die Stimme, Worte, nutzlose, sinnlose Worte, weither, von einem anderen Ufer. Und dann war es plötzlich kein Mensch mehr, heiß, fleckig und unruhig, der vor ihr war – es war nur noch irgend etwas Armseliges, sich Bewegendes, etwas Verprügeltes, Flehendes, es waren nur noch gehetzte, verlangende Augen, irgendein Tier, gefangen in dieser Einsamkeit aus Glas und Station Toulouse und fremder Nacht.
»Ja«, sagte sie,»ja…«
Sie wollte, daß er ginge und sie allein ließe, nur einen Augenblick noch, ein paar Minuten, ein kleines Stück von der langen Ewigkeit, die vor ihr lag – doch da stand er schon auf und stand vor ihr und beugte sich herunter und nahm ihren Arm und zog sie hoch und zog sie fort, und sie watete durch den Glasschlamm und folgte, und dann kamen die Treppen, die weich waren und mit den Zähnen ihrer Stufen nach ihren Beinen schnappten, und Türen und Helligkeit und ein Zimmer.
Sie saß auf ihrem Bett. Sie hatte das Gefühl, nie wieder aufstehen zu können. Ihre Gedanken fielen auseinander. Es schmerzte nicht. Es war nur ein lautloses Auseinanderfallen, wie überreife Früchte fallen, nachts in der Stille des Herbstes von einem regungslosen Baum. Sie beugte sich vor, sie sah auf den abgetretenen Läufer, als müßten sie daliegen, und dann hob sie den Kopf, und jemand sah sie an.
Es waren fremde Augen, unter weichem Haar, es war ein schmales, fremdes Gesicht, vorgeneigt, wie eine Maske, und dann war es ein kühler Schauder und ein Erbeben und ein Erwachen von weit her, und sie sah, daß es ihr Gesicht war, das sie aus dem Spiegel anblickte.
Sie rührte sich. Und dann sah sie den Mann, der neben ihrem Bett kniete, in einer sonderbar lächerlichen Haltung, und ihre Hände hielt.
Sie zog die Hände weg.»Was wollen Sie?«fragte sie heftig.»Was wollen Sie von mir?«
Der Mann starrte sie an.»Aber Sie haben mir doch… Sie haben mir doch gesagt, ich könne mitkommen…«
Sie wurde schon wieder müde.»Nein…«, sagte sie.»Nein…«
Die Worte kamen wieder. Worte von Unglück und Jammer und Einsamkeit und Leiden. Worte, viel zu große Worte, aber gab es denn kleine für das Kleine, das einen zerrieb und zerschliß? Und daß er morgen fort müsse, und daß noch nie eine Frau dagewesen sei, und Angst nur und das Gebrechen, das ihn lähme und scheu und lächerlich mache, ein zerschlagener Fuß, nur ein Fuß, und die Verzweiflung und die Hoffnung, gerade heute nacht, sie habe ihn doch immer angesehen und er habe geglaubt…
Hatte sie ihn angesehen? Sie wußte es nicht. Sie wußte jetzt nur, daß dieses ihr Zimmer war und daß sie nie mehr hinausgehen würde, und daß alles andere ein Nebel war und weniger.
»Es würde ein anderes Leben für mich sein!«flüsterte der Mann neben ihren Knien.»Alles würde anders für mich sein… verstehen Sie das doch! Nicht mehr sich ausgestoßen fühlen…«
Sie verstand nichts. Sie sah wieder in den Spiegel. Das war Barbara Klein, eine Schauspielerin, vorgebeugt, achtundzwanzig Jahre alt, unberührt ein Leben lang, aufbewahrt für einen Traum, der nie gekommen war, und nun ohne Hoffnung und am Ende.
Sie stand vorsichtig auf. Sie ließ das Bild im Spiegel nicht aus dem Auge. Sie sah es an. Sie lächelte ihm zu, und einen Augenblick flackerte etwas wie Ironie und ein makabrer Spott hindurch.»Ja«, sagte sie müde.»Ja… gut…«
Der Mann verstummte. Er starrte sie fast ungläubig an. Sie achtete nicht darauf. Alles war plötzlich zu schwer. Das Kleid drückte wie ein Panzer. Sie ließ es. fallen. Sie ließ sich selbst fallen, die schweren Schuhe, den schweren, schmalen Körper, und das Bett wuchs und wurde riesig und nahm sie in seine Arme, das weiche, weiße Grab…
Sie hörte einen Schalter knipsen und das Rascheln von Kleidern. Sie öffnete mit Mühe die Augen. Es war dunkel.»Licht!«sagte sie in das Kissen hinein.»Das Licht soll brennen!«
»Einen Augenblick! Bitte nur einen Moment noch!«Die Stimme des Mannes war verlegen und hastig.»Es ist nur… bitte, verstehen Sie…«
»Das Licht soll brennen bleiben…«, wiederholte sie.
»Ja, gewiß… sofort… nur…«
»Es ist noch so lange dunkel dann…«, murmelte sie.
»Ja… ja, gewiß… die Nächte im Winter sind lang…«
Sie hörte den Schalter klicken. Das Licht war wieder auf ihren geschlossenen Augenlidern, eine sanfte rote Dämmerung. Dann fühlte sie den anderen Körper. Eine Sekunde zog sich alles in ihr zusammen – dann ließ sie sich los. Es würde vorübergehen, wie alles…
SIE ÖFFNETE LANGSAM wieder die Augen. Ein Mensch, den sie nicht kannte, stand vor ihrem Bett. Sie hatte eine Erinnerung gehabt an etwas Unruhiges, Flehendes, Elendes… aber das, was sie jetzt sah, war ein heißes, offenes Gesicht, das überflackert war von Zärtlichkeit und Glück.
Sie sah ihn einen Augenblick an.»Sie müssen jetzt gehen«, sagte sie dann.»Bitte, gehen Sie…«
Der Mann machte eine Bewegung. Dann kamen die Worte wieder, schnelle, sprudelnde Worte. Sie verstand anfangs nichts. Es war zu schnell, und sie war zu ausgelöscht. Sie wollte nur, daß er jetzt ging. Dann verstand sie etwas – daß er verzweifelt und kaputt gewesen sei und es nun nicht mehr wäre. Und daß er wieder Mut hätte, gerade jetzt, wo er ausgewiesen sei aus Frankreich…
Sie nickte. Er sollte aufhören zu sprechen.»Bitte«, sagte sie.
Er schwieg.
»Sie müssen jetzt gehen«, sagte sie.
»Ja…«
Sie lag zerschlagen unter der Decke. Ihre Augen folgten dem Manne, der zur Tür ging. Er war der letzte Mensch, den sie sehen würde. Sie lag sehr still, in einem sonderbaren Frieden – es ging sie alles nichts mehr an.