»Er geht als Arbeiter. Aber er will versuchen, in den Autohandel zu kommen.«
»Du bist eine gute Mutter, Edith«, sagte Moritz Rosenthal nach einer Weile.
»Ich bin wie jede, Moritz.«
»Was wirst du jetzt tun?«
»Ich werde mich etwas ausruhen. Dann habe ich wieder Arbeit. Es gibt ein Baby hier im Hotel. Vor vierzehn Tagen geboren. Die Mutter muß bald wieder arbeiten. Da werde ich zur Adoptiv-Großmutter.«
Moritz Rosenthal richtete sich ein wenig auf.»Ein Baby? Vierzehn Tage alt? Das ist dann ja schon ein Franzose! Habe ich mit achtzig Jahren nicht geschafft.«Er lächelte.»Kannst du es denn in den Schlaf singen, Edith?«-»Ja.«
»Mit den Liedern, mit denen du meinen Sohn damals in den Schlaf gesungen hast. Es ist lange her, Edith. Alles ist plötzlich so lange her. Willst du mir nicht wieder einmal eines davon vorsingen? Manchmal bin ich auch schon wie ein Kind, das schlafen möchte.«
»Welches denn, Moritz?«
»Das Lied vom armen Judenkind. Es ist vierzig Jahre her, daß du es gesungen hast. Du warst sehr schön und jung damals. Du bist immer noch schön, Edith.«
Edith Rosenfeld lächelte. Dann richtete sie sich ein wenig auf und begann mit ihrer brüchigen Stimme ein altes jiddisches Lied zu singen. Ihre Stimme klirrte etwas, wie die dünne Melodie einer alten Spieldose. Moritz Rosenthal legte sich zurück und lauschte. Er schloß die Augen und atmete ruhig. Leise sang die alte Frau in dem kahlen Raum die schwermütige Melodie der Heimatlosigkeit und die traurigen Worte dazu:
»Rosinkes und Mandele,
Das wird sein dein Beruf -
Domit wirst müsse, Jiddele, handele -
Schluf, Jiddele, schluf -«
Ruth und Kern saßen schweigend und hörten zu. Über ihren Köpfen rauschte der Wind der Zeit – vierzig Jahre, fünfzig Jahre wehten im Gespräch der alten Frau mit dem alten Mann vorüber, und es erschien den beiden Alten als selbstverständlich, daß sie vergangen waren. Aber mitten darin hockten die beiden zwanzigjährigen Leben, für die ein Jahr schon etwas Unendliches und fast Unausdenkbares war, und sie spürten etwas wie eine schattenhafte Angst: daß alles verging und vergehen mußte und daß es auch nach ihnen einmal greifen würde…
Edith Rosenfeld stand auf und beugte sich über Moritz Rosenthal. Er schlief. Sie betrachtete das große Greisengesicht eine Zeitlang.»Kommt«, sagte sie dann,»wir wollen ihn schlafen lassen.«
Sie löschte das Licht aus, und sie gingen ohne Geräusch hinaus auf den finsteren Korridor und tappten zu ihrem Zimmer hinüber.
KERN FUHR GERADE eine schwere Karre voll Erde vom Pavillon fort zu Marill hinüber, als er von zwei Herren angehalten wurde.
»Einen Moment, bitte! Sie auch«, sagte der eine zu Marill.
Kern stellte umständlich die Karre zu Boden. Er wußte, was los war. Diesen Ton kannte er; in der ganzen Welt wäre er sofort aus tiefstem Schlaf aufgesprungen, wenn er diesen leisen, höflichen und unerbittlichen Ton neben seinem Bett gehört hätte.
»Wollen Sie uns, bitte, Ihre Ausweispapiere zeigen?«
»Ich habe sie nicht bei mir«, erwiderte Kern.
»Wollen Sie uns vorher, bitte, Ihre Ausweispapiere zeigen?«sagte Marill.
»Aber gewiß, gern! Hier, das genügt wohl, nicht wahr? Polizei. Der Herr ist Kontrolleur des Arbeitsministeriums. Sie verstehen: die große Anzahl französischer Arbeitsloser zwingt uns zu einer Kontrolle…«
»Ich verstehe, mein Herr. Ich kann Ihnen leider nur eine Aufenthaltserlaubnis zeigen; eine Arbeitserlaubnis habe ich nicht; Sie haben sie auch sicher nicht erwartet…«
»Sie haben ganz recht, mein Herr«, sagte der Kontrolleur höflich,»wir haben das nicht erwartet. Aber es genügt uns. Sie können weiterarbeiten. Die Regierung will in diesem besonderen Falle beim Bau der Ausstellung die Bestimmungen nicht allzu streng nehmen. Entschuldigen Sie bitte die Störung.«
»Bitte, es ist doch Ihre Pflicht.«
»Darf ich Ihren Ausweis sehen?«fragte der Kontrolleur Kern.
»Ich habe keinen.«
»Kein Recepisse?«
»Nein.«
»Sie sind illegal eingewandert?«
»Ich hatte keine andere Möglichkeit.«
»Ich bedaure sehr«, sagte der Mann von der Polizei,»aber Sie müssen mit uns zur Präfektur kommen.«
»Ich habe damit gerechnet«, erwiderte Kern und sah Marill an.»Sagen Sie Ruth, daß ich geschnappt worden bin; ich komme so schnell zurück, wie ich kann. Sie soll keine Angst haben.«
Er hatte deutsch gesprochen.»Ich habe nichts dagegen, wenn Sie sich noch einen Augenblick unterhalten wollen«, erklärte der Kontrolleur zuvorkommend.
»Ich werde für Ruth sorgen, bis Sie wiederkommen«, sagte Marill auf deutsch.»Hals- und Beinbruch, alter Junge. Lassen Sie sich über Basel abschieben. Über Burgfelden wieder herein. Telefonieren Sie vom Gasthof Steiff zum Hotel Steiff in St. Louis um ein Taxi bis Mülhausen und von dort bis Belfort. Das ist der beste Weg. Wenn man Sie in die Santé bringt, schreiben Sie mir, sobald Sie können. Klassmann wird außerdem aufpassen. Ich rufe ihn sofort an.«
Kern nickte Marill zu.»Ich bin fertig«, sagte er dann.
Der Vertreter der Polizei übergab ihn einem Manne, der in der Nähe gewartet hatte. Der Kontrolleur sah Marill lächelnd an.»Hübsche Abschiedsworte«, sagte er in perfektem Deutsch.»Sie scheinen unsere Grenzen gut zu kennen.«
»Leider«, erwiderte Marill.
MARILL SASSMIT Waser in einem Bistro.»Kommen Sie«, sagte er,»lassen Sie uns noch einen Schnaps nehmen! Verdammt, ich traue mich nicht ins Hotel! Das erstemal, daß mir so was passiert! Was nehmen Sie? Einen Fine oder einen Pernod?«
»Fine«, erklärte Waser mit Würde.»Das Anisettezeug ist für Weiber.«
»Nicht in Frankreich.«Marill winkte dem Kellner und bestellte einen Kognak und einen Pernod pur.
»Ich kann es ihr sagen«, schlug Waser vor.»In unseren Kreisen ist so was gang und gäbe. Da wird alle Augenblicke mal jemand hopp genommen, und man muß es der Frau oder seinem Mädchen beibringen. Am besten ist es, Sie starten mit der großen, allgemeinen Sache, die immer Opfer erfordert.«
»Was für eine allgemeine Sache?«
»Die Bewegung! Die revolutionäre Aufklärung der Massen, selbstverständlich!«
Marill betrachtete den Kommunisten aufmerksam eine Weile.»Waser«, sagte er dann ruhig,»damit würden wir wohl nicht weit kommen. So was ist gut für ein sozialistisches Manifest, aber für weiter nichts. Ich vergaß, daß Sie in politischen Dingen stecken. Trinken wir unsern Schnaps, und dann an die Gewehre! Irgendwie wird es schon gemacht werden.«
Sie zahlten und gingen durch den matschigen Schneebrei zum Hotel Verdun. Waser verschwand in der Katakombe, und Marill stieg langsam die Treppen hinauf.
Er klopfte an Ruths Tür. Sie öffnete so schnell, als hätte sie hinter der Tür gewartet. Das Lächeln auf ihrem Gesicht verwischte sich etwas, als sie Marill sah.»Marill…«, sagte sie.
»Ja, den haben Sie wohl nicht erwartet, was?«
»Ich dachte, es wäre Ludwig. Er muß ja auch jeden Augenblick kommen.«
»Ja.«
Marill trat ein. Er sah Teller auf dem Tisch stehen, einen Spirituskocher mit brodelndem Wasser, Brot und Aufschnitt und in einer Vase ein paar Blumen. Er sah das alles, er sah Ruth, die erwartungsvoll vor ihm stand, und er nahm unschlüssig, um etwas zutun, die Vase hoch.»Blumen«, murmelte er.»Auch noch Blumen.«
»Blumen sind billig in Paris«, sagte Ruth.
»Ja. Ich meinte das nicht so. Nur…«Marill stellte die Vase so vorsichtig zurück, als wäre sie nicht aus billigem, dickem Preßglas, sondern aus hauchdünnem Porzellan.»Es macht es nur noch so verflucht viel schwerer, das alles…«
»Was?«
Marill antwortete nicht.
»Ich weiß es«, sagte Ruth plötzlich.»Die Polizei hat Ludwig gefaßt.«
Marill drehte sich um, ihr zu.»Ja, Ruth.«
»Wo ist er?«
»In der Präfektur.«
Ruth nahm schweigend ihren Mantel. Sie zog ihn an, stopfte ein paar Sachen in die Taschen und wollte an Marill vorbei, aus der Tür. Er hielt sie auf.»Das ist sinnlos«, erklärte er.»Es hilft ihm und Ihnen nichts. Wir haben jemand in der Präfektur, der aufpaßt. Bleiben Sie hier!«