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Er spürte, wie seine Adern schmolzen und sich öffneten, wie sein Blut hinauszuströmen schien in den verklärten Strom, der draußen flutete und es aufnahm und stärker mit ihm zurückkehrte, der seine Hände trug und sie mit sich nahm zu fernen Händen, die sich ihm entgegenstreckten, diesen kreisenden Strom, der Stück um Stück von ihm wegbröckelte und wegschwemmte, der seine Vereinzelung löste wie ein Wildwasser im Frühjahr eine Eisscholle und der ihm in dieser einzigen, endlosen Nacht das einsame Glück der Allverbundenheit gab und ihm alles an die Brust schwemmte: Sein Leben, die verlorenen Jahre, den Glanz der Liebe und das tiefe Wissen um die Wiederkehr, jenseits der Zerstörung.

20

Steiner kam morgens um elf Uhr an. Er ließ seinen Koffer in der Aufbewahrungsstelle für Gepäck und ging sofort zum Krankenhaus. Er sah die Stadt nicht; er sah nur etwas, das an ihm zu beiden Seiten vorbeitrieb, eine Flut von Häusern, Wagen und Menschen.

Vor dem großen, weißen Bau blieb er stehen. Er zögerte eine Weile. Er starrte auf das weite Portal und die endlosen Reihen der Fenster, Stock über Stock. Irgendwo dort – aber vielleicht auch nicht mehr. Er biß die Zähne zusammen und trat ein.

»Ich möchte mich erkundigen, wann Besuchsstunde ist«, sagte er im Anmeldebüro.

»Für welche Klasse?«fragte die Schwester.

»Das weiß ich nicht. Ich komme zum erstenmal.«

»Zu wem wollen Sie?«

»Zu Frau Marie Steiner.«

Steiner wunderte sich einen Augenblick, als die Schwester gleichgültig ein dickes Buch nachschlug. Er hatte fast erwartet, die weiße Halle müsse zusammenstürzen, oder die Schwester müsse aufspringen und jemand rufen, eine Wache oder Polizei, als er den Namen aussprach.

Die Schwester blätterte.»Patienten erster Klasse können jederzeit Besuch empfangen«, sagte sie, während sie suchte.

»Es wird nicht erster Klasse sein«, erwiderte Steiner.»Vielleicht dritter.«

»Für dritte Klasse ist Besuchsstunde von drei bis fünf.«

Die Schwester suchte und suchte.»Wie war doch der Name?«fragte sie.

»Steiner, Marie Steiner.«Steiner hatte plötzlich einen trockenen Hals. Er starrte die hübsche, puppenhafte Schwester an, als käme sein Todesurteil. Er wartete darauf, daß sie sagen würde: Gestorben.

»Marie Steiner«, sagte die Schwester,»zweite Klasse. Zimmer fünfhundertfünf, fünfter Stock. Besuchsstunde von drei bis sechs Uhr.«

»Fünfhundertfünf. Danke vielmals, Schwester.«

»Bitte, mein Herr!«

Steiner blieb stehen. Die Schwester griff nach dem summenden Telefon.»Haben Sie noch eine Frage, mein Herr?«

»Lebt sie noch?«fragte Steiner.

Die Schwester legte das Telefon nieder. In der Muschel quakte eine leise, blecherne Stimme weiter, als wäre das Telefon ein Tier.

»Natürlich, mein Herr«, sagte die Schwester und blickte in ihr Buch.»Sonst wäre doch ein Vermerk hinter ihrem Namen. Die Abgänge werden immer pünktlich gemeldet.«

»Danke.«

Steiner zwang sich, nicht zu fragen, ob er sofort hinaufgehen könne. Er fürchtete, daß man wissen wolle, weshalb, und er mußte jedes Aufsehen vermeiden. Deshalb ging er. Er wanderte ziellos durch die Straßen, immer wieder in größeren Kreisen am Hospital vorbei. Sie lebt, dachte er. Mein Gott, sie lebt! Dann überfiel ihn plötzlich die Angst, jemand könnte ihn erkennen, und er suchte eine abgelegene Kneipe, um dort zu warten. Er bestellte etwas zu essen, aber er konnte nichts hinunterkriegen.

Der Kellner sah ihn befremdet an.»Schmeckt es Ihnen nicht?«

»Doch, es ist gut. Aber bringen Sie mir vorher einen Kirsch.«

Er zwang sich, die Mahlzeit zu essen. Dann bestellte er sich eine Zeitung und Zigaretten. Er tat, als wenn er läse, und er wollte es auch. Aber nichts drang durch die Mauer seiner Stirn. Er saß in einem halbdunklen Raum, der nach Speisen und schalem vergossenem Bier roch, und erlebte die schrecklichsten Stunden seines Daseins. Er malte sich aus, daß Marie jetzt, in diesen Stunden, stürbe, er hörte ihre verzweifelten Rufe nach ihm, er sah ihr vom Todesschweiß überträntes Gesicht, und er saß bleiern auf seinem Stuhl, die Zeitung raschelnd vor den Augen, und biß die Zähne zusammen, um nicht zu stöhnen und aufzuspringen und fortzulaufen. Der kriechende Zeiger auf seiner Uhr war der Arm des Schicksals, der sein Leben staute und ihn fast ersticken ließ ob seiner Langsamkeit.

Er ließ endlich die Zeitung sinken und stand auf. Der Kellner lehnte an der Theke und stocherte in den Zähnen. Er kam heran, als er sah, daß der Gast sich erhob.»Zahlen?«fragte er.

»Nein«, sagte Steiner.»Noch einen Kirsch.«

»Gut.«Der Kellner schenkte ein.

»Nehmen Sie auch einen.«

»Können wir machen.«

Der Kellner goß noch ein Glas voll und hob es mit zwei Fingern an.

»Zur Gesundheit!«

»Ja«, sagte Steiner,»zur Gesundheit.«

Sie tranken und setzten die Gläser nieder.»Spielen Sie Billard?«fragte Steiner.

Der Kellner blickte auf den dunkelgrün ausgeschlagenen Tisch, der in der Mitte der Gaststube stand.»Etwas.«

»Wollen wir eine Partie machen?«

»Warum nicht? Spielen Sie gut?«

»Ich habe lange nicht gespielt. Wir können erst eine Probepartie machen, wenn Sie wollen.«

»Gemacht.«

Sie kreideten die Stöcke ein und spielten einige Bälle. Dann begannen sie eine Partie, die Steiner gewann.

»Sie spielen besser als ich«, sagte der Kellner.»Sie müssen mir zehn Punkte vorgeben.«

»Gut.«

Wenn ich diese Partie gewinne, wird alles gut, dachte Steiner. Sie lebt, ich sehe sie, sie wird vielleicht wieder gesund…

Er spielte konzentriert und gewann die Partie.»Jetzt gebe ich Ihnen zwanzig Punkte vor«, sagte er. Diese zwanzig Punkte waren Leben, Gesundheit und Flucht zusammen, und die weißen Bälle und ihr Klicken waren wie das Schnappen der Schlüssel des Schicksals. Das Spiel war hart. Der Kellner kam in einer guten Serie bis auf zwei Punkte an die volle Zahl heran; dann verfehlte er den letzten Ball um einen Zentimeter. Steiner nahm sein Queue und begann zu spielen. Die Augen flimmerten ihm, und er mußte einige Male pausieren; aber er kam ohne Fehlstoß zu Ende.

»Gut gespielt«, sagte der Kellner anerkennend.

Steiner nickte ihm dankbar zu und sah auf die Uhr. Es war nach drei. Rasch zahlte er und ging.

Er stieg die mit Linoleum belegten Stufen hinauf und war nichts mehr als ein einziges, ungeheuer hohes, rasendes Vibrieren. Der lange Gang bog und wellte sich, und dann sprang kreidig eine weiße Tür heraus, schob sich vor und stand stilclass="underline" fünfhundertfünf.