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Steiner klopfte. Niemand antwortete. Er klopfte noch einmal. Sein Magen krampfte sich hoch in einer entsetzlichen Angst, daß jetzt noch etwas passieren könne. Er öffnete die Tür.

Das kleine Zimmer lag im Licht der Nachmittagssonne da wie eine Insel des Friedens aus einer andern Welt. Es schien, als hätte die hallende, vorwärts stürmende Zeit keine Gewalt mehr über die unendlich stille Gestalt, die in dem schmalen Bett lag und Steiner ansah. Er taumelte etwas, und sein Hut entfiel ihm. Er wollte sich bücken, ihn aufzuheben, aber mitten im Bücken brach es wie ein Schlag in seinen Rücken, und ohne zu wissen, was er getan hatte, kniete er neben dem Bett und strömte lautlos von Schütterung und Heimkehr über.

Die Augen der Frau sahen ihn lange friedvoll an. Erst allmählich wurden sie unruhig. Die Stirn begann zu zucken, und die Lippen bewegten sich. Dann flackerte es wie Schrecken in ihnen auf. Die Hand, die reglos auf der Decke lag, hob sich, als wollte sie sich vergewissern und berühren, was die Augen sahen.

»Ich bin es, Marie«, sagte Steiner.

Die Frau versuchte den Kopf zu heben. Ihre Augen irrten über sein Gesicht, das dicht vor ihr war.

»Sei ruhig, Marie, ich bin es«, sagte Steiner.»Ich bin gekommen.«

»Josef…«, flüsterte die Frau.

Steiner mußte den Kopf senken. Das Wasser schoß ihm in die Augen. Er biß sich auf die Lippen und schluckte.»Ich bin es, Marie. Ich bin zurückgekommen, zu dir.«

»Wenn sie dich finden…«, flüsterte die Frau.

»Sie finden mich nicht. Sie können mich nicht finden. Ich kann hierbleiben. Ich bleibe bei dir.«

»Faß mich an, Josef – ich muß fühlen, daß du da bist. Gesehen habe ich dich oft…«

Er nahm ihre leichte Hand mit den blauen Adern in seine Hände und küßte sie. Dann beugte er sich über sie und legte seine Lippen auf ihren müden und schon fernen Mund. Als er sich aufrichtete, standen ihre Augen voll Tränen. Sie schüttelte sanft das Gesicht, und die Tropfen fielen wie Regen herunter.

»Ich wußte, daß du nicht kommen konntest. Aber ich habe immer auf dich gewartet…«

»Jetzt bleibe ich bei dir.«

Sie versuchte ihn zurückzuschieben.»Du kannst doch nicht hierbleiben! Du mußt fort. Du weißt nicht, was hier war. Du mußt gleich gehen. Geh, Josef…«

»Nein, es ist nicht gefährlich.«

»Es ist gefährlich, ich weiß es besser. Ich habe dich gesehen, nun geh! Es dauert nicht lange mehr mit mir. Das kann ich gut allein abmachen.«

»Ich habe es so eingerichtet, daß ich hierbleiben kann, Marie. Es kommt eine Amnestie; darunter falle ich auch.«

Sie blickte ihn ungläubig an.

»Es ist wahr«, sagte er,»ich schwöre es dir, Marie. Es braucht niemand zu wissen, daß ich hier bin. Aber es ist auch nicht schlimm, wenn man es weiß.«

»Ich sage nichts, Josef. Ich habe nie etwas gesagt.«

»Das weiß ich, Marie.«Eine Wärme stieg ihm in die Stirn.»Du hast dich nicht von mir scheiden lassen?«

»Nein. Wie konnte ich das! Sei nicht böse deshalb.«

»Es war nur für dich, damit du es leichter haben solltest.«

»Ich habe es nicht schwer gehabt. Man hat mir geholfen. Auch daß ich dieses Zimmer habe. Es war besser, allein zu liegen. Du warst dann mehr da.«

Steiner sah sie an. Das Gesicht war zusammengeschmolzen, die Knochen traten heraus, und die Haut war wächsern blaß, mit blauen Schatten. Der Hals war zerbrechlich und dünn, und die Schlüsselbeine standen stark aus den eingesunkenen Schultern hervor. Sogar die Augen waren verschleiert, und der Mund war ohne Farbe. Nur das Haar leuchtete und funkelte, es schien dichter und stärker geworden zu sein, als ob all die vergangene Kraft sich in ihm gesammelt habe, um über den erlöschenden Körper zu triumphieren. Es bauschte sich in der Nachmittagssonne wie eine Gloriole aus Rot und Gold, wie ein wilder Protest gegen die Müdigkeit des kindhaften Leibes unter dem Leinen, das er kaum mehr hob.

Die Tür ging auf, und eine Schwester kam herein. Steiner stand auf. Die Schwester trug ein Glas mit einer milchigen Flüssigkeit und stellte es auf den Tisch.»Sie haben Besuch?«sagte sie, während ihre raschen, blauen Augen Steiner musterten.

Die Kranke bewegte den Kopf.»Aus Breslau«, flüsterte sie.

»So weit her? Das ist schön. Da haben Sie doch etwas Unterhaltung. «

Die blauen Augen gingen wieder hurtig über Steiner hinweg, während die Schwester ein Thermometer hervorzog.

»Hat sie Fieber?«fragte Steiner.

»Ach wo«, erwiderte die Schwester fröhlich.»Seit Tagen schon nicht mehr.«

Sie legte das Thermometer an und ging. Steiner zog einen Stuhl an das Bett und setzte sich Marie gegenüber. Er nahm ihre Hände in seine Hände.»Freust du dich, daß ich da bin?«und war sich bewußt, wie töricht seine Frage war.

»Es ist alles«, sagte Marie, ohne zu lächeln.

Sie sahen sich an und schwiegen. Es war so wenig zu sagen, denn es war so viel, daß sie beisammen waren. Sie sahen sich an, und es war nichts mehr da außer ihnen. Der eine versank im andern. Sie waren heimgekehrt zu sich. Das Leben hatte keine Zukunft und keine Vergangenheit mehr; es war nur noch Gegenwart. Es war Ruhe, Stille und Frieden.

Die Schwester kam noch einmal herein und zeichnete einen Strich auf die Fieberkurve; sie merkten es kaum. Sie sahen sich an.

Die Sonne glitt langsam weiter, sie verließ zögernd das flammende, schöne Haar und ließ sich wie eine weiche Katze aus Licht dicht daneben auf dem Kissen nieder; dann schob sie sich unwillig zur Wand hinüber und kletterte langsam daran empor; die beiden sahen sich an. Die Dämmerung kam auf blauen Füßen und füllte das Zimmer; sie sahen sich an und ließen sich nicht, bis die Schatten aus den Zimmerecken hervorgeweht kamen und mit ihren Flügeln das weiße Gesicht, das einzige Gesicht verdeckten.

Die Tür ging auf, und mit einem Strom von Licht kam der Arzt und hinter ihm die Schwester.»Sie müssen nun gehen«, sagte die Schwester.

»Ja.«Steiner erhob sich und beugte sieh über das Bett.»Ich komme morgen wieder, Marie.«

Sie lag wie ein müde gespieltes, halb schlafendes, halb träumendes Kind.»Ja«, sagte sie, und er konnte nicht erkennen, ob sie zu ihm oder zu seinem Traumbild sprach.»Ja, komm wieder.«

Steiner wartete draußen auf den Arzt. Er fragte ihn, wie lange es noch dauern würde. Der Arzt musterte ihn.»Drei bis vier Tage höchstens«, sagte er dann.»Es ist ein Wunder, daß sie überhaupt noch so lange ausgehalten hat.«

»Danke.«Steiner ging langsam die Treppen hinunter. Vor dem Portal blieb er stehen. Vor ihm lag plötzlich die Stadt. Er hatte sie nicht wahrgenommen, als er gekommen war… aber jetzt lag sie deutlich und unentrinnbar zugleich vor ihm. Er sah die Straßen, er sah die Gefahr, die unsichtbare, schweigende Gefahr, die an jeder Ecke, in jedem Haustor, in jedem Gesicht auf ihn lauerte. Er wußte, daß er nicht viel tun konnte. Der Platz, wo man ihn fassen konnte, wie ein Wild an der Tränke im Dschungel, war dieser weiße, steinerne Bau hinter ihm. Aber er wußte auch, daß er sich verbergen mußte, um wiederkommen zu können. Drei bis vier Tage. Ein Nichts und eine Ewigkeit. Einen Augenblick überlegte er, ob er versuchen sollte, einen seiner Freunde zu treffen – doch dann entschied er sich für ein mittleres Hotel. Das war am unauffälligsten für den ersten Tag.

KERN SASSMITDEM Österreicher Leopold Brück und dem Westfalen Moenke in einer Zelle des Gefängnisses La Santé. Sie klebten Tüten.

»Kinder«, sagte Leopold nach einer Weile,»ich habe einen Hunger – unmenschlich! Am liebsten möchte ich den Kleister auffressen – wenn’s nicht bestraft würde!«

»Warte noch zehn Minuten«, erwiderte Kern.»Dann kommt der Abendfraß.«-»Was nützt das schon! Hinterher werde ich erst recht Hunger haben.«Leopold blies eine Tüte auf und zerschlug sie mit einem Knall.»Es ist ein Elend in so verfluchten Zeiten, daß der Mensch einen Magen hat. Wenn ich jetzt an ein Beinfleisch denke… oder gar an einen Tafelspitz… ich könnte diese ganze Bude niederreißen!«