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Das Tor wurde immer heller und strahlender, je näher er kam. Was sie jetzt für Lichteffekte an den Grenzen haben, grübelte Moritz, man kann gar nicht mehr erkennen, wo man ist. Vielleicht haben sie neuerdings alles erleuchtet, um uns besser zu erwischen. Eine Verschwendung!

»Vater Moritz«, sagte der Türhüter,»weshalb versteckst du dich denn?«

»Auch ’ne Frage, dachte Moritz, wo er mich doch kennt und weiß, was mit mir los ist.

»Geh hinein«, sagte der Türwächter.

»Hören Se«, erwiderte Moritz,»bis jetzt bin ich meiner Ansicht nach noch nicht strafbar. Ich habe Ihre Grenzen noch nicht passiert. Oder gilt das hinter mir auch schon mit?«

»Es gilt schon mit«, sagte der Hüter.

Dann bin ich verloren, dachte Rosenthal. Es scheint ’ne Insel zu sein, vielleicht ist es Kuba, da wollen ja neuerdings so viele hin.

»Fürchte dich nicht«, sagte der Wächter,»es geschieht dir nichts. Geh ruhig hinein.«

»Hören Se«, erwiderte Moritz Rosenthal,»ich will Ihnen gleich die Wahrheit sagen: Ich habe keinen Paß.«

»Du hast keinen Paß?«

Sechs Monate, dachte Moritz, als er die Stimme grollen hörte, und schüttelte ergeben den Kopf.

Der Türhüter hob den Stab.»Dann brauchst du nicht erst zwanzig Millionen Lichtjahre im himmlischen Stehparterre zu bleiben. Du bekommst sofort einen gepolsterten Sessel mit Armlehnen und Flügelstützen.«

»Alles ganz schön«, erwiderte Vater Moritz,»aber es geht nicht. Ich habe nämlich auch keine Einreise- und keine Aufenthaltserlaubnis. Von Arbeitserlaubnis wollen wir gar nicht erst reden.«

»Keine Aufenthaltserlaubnis? Kein Visum? Keine Arbeitserlaubnis?«Der Wächter hob die Hand.»Dann bekommst du sogar eine Loge im ersten Rang, Mitte, mit vollem Blick auf die himmlischen Heerscharen.«

»Das wäre nicht schlecht«, sagte Moritz,»besonders, wo ich so gern ins Theater gehe. Aber jetzt kommt das, was alles kaputt macht, und eigentlich wundere ich mich, daß Sie nicht weiter draußen schon ein Schild haben, daß wir nicht ’reindürfen. Also ich bin ein Jude. Ausgebürgert aus Deutschland. Illegal seit Jahren.«

Der Türhüter hob beide Arme.»Jude? Ausgebürgert? Illegal seit Jahren? Dann bekommst du zwei Engel zu deiner persönlichen Bedienung und einen Posaunenbläser dazu.«Er rief in das Tor.»Der Engel der Heimatlosen!«Und eine große Gestalt in blauen Gewändern mit einem Gesicht wie alle Mütter der Welt trat hervor neben Vater Moritz.»Der Engel derer, die viel gelitten haben!«rief der Wächter aufs neue, und eine weißgekleidete Gestalt mit einem Krug Tränen auf der Schulter trat auf die andere Seite von Vater Moritz.

»Eine Sekunde«, bat der und fragte den Wächter:»Sie sind sicher, mein Herr, daß da drin nicht…?«

»Keine Sorge. Unsere Konzentrationslager sind weiter unten.«

Die beiden Engel nahmen seine Arme, und dann schritt Vater Moritz, der alte Wanderer, der Veteran der Emigranten, getrost durch das Tor, auf ein ungeheures Licht zu, über das plötzlich rauschend schneller und schneller farbige Schatten fielen…

»Moritz«, sagte Edith Rosenfeld in der Tür.»Hier ist das Baby. Der kleine Franzose. Willst du ihn sehen?«

Es blieb still. Sie trat vorsichtig näher. Moritz Rosenthal aus Godesberg am Rhein atmete nicht mehr.

MARIE ERWACHTE NOCH einmal. Sie hatte den ganzen Vormittag in einer dämmernden Agonie gelegen. Jetzt erkannte sie Steiner ganz klar.

»Du bist noch hier?«flüsterte sie erschrocken.

»Ich kann hierbleiben, so lange ich will, Marie.«

»Was heißt das?«

»Die Amnestie ist herausgekommen. Ich falle darunter. Du brauchst keine Angst mehr zu haben. Ich bleibe jetzt immer hier.«

Sie sah ihn grübelnd an.»Du sagst mir das, um mich zu beruhigen, Josef…«

»Nein, Marie. Die Amnestie ist gestern herausgekommen.«Er wandte sich nach der Schwester um, die im Hintergrund des Zimmers herumhantierte.»Nicht wahr, Schwester, seit gestern besteht keine Gefahr mehr für mich, erwischt zu werden?«

»Nein«erwiderte die Schwester undeutlich.

»Bitte, kommen Sie doch näher, meine Frau möchte es von Ihnen genau hören.«

Die Schwester blieb gebückt stehen.»Ich hab’s ja schon gesagt.«

»Bitte, Schwester!«flüsterte Marie.

Es blieb still.»Bitte, Schwester«, flüsterte die Kranke noch einmal.

Die Schwester schob sich unwillig heran. Die Kranke sah sie angestrengt an.»Nicht wahr, ich darf seit gestern immer hierbleiben?«fragte Steiner.

»Ja«, stieß die Schwester hervor.

»Es besteht keine Gefahr für mich mehr, erwischt zu werden?«

»Nein.«

»Danke, Schwester.«

Steiner sah, wie sich die Augen der Sterbenden verschleierten. Sie hatte keine Kraft mehr, zu weinen.»Jetzt ist alles gut, Josef«, flüsterte sie.»Und jetzt, gerade wo du mich brauchen kannst, muß ich weg…«

»Du gehst nicht weg, Marie…«

»Ich möchte aufstehen und mit dir gehen können.«

»Wir werden zusammen fortgehen.«

Sie lag eine Zeitlang und sah ihn an. Ihr Gesicht war grau, das Skelett arbeitete sich durch, und das Haar war über Nacht fahl und glanzlos geworden, als sei es erblindet. Steiner sah das alles und sah es doch nicht; er sah nur, daß der Atem noch ging; und solange sie lebte, war sie für ihn Marie, seine Frau, umgeben vom Schimmer der Jugend und der Gemeinsamkeit.

Der Abend kroch ins Zimmer, und von draußen, von der Tür her, hörte man ab und zu das herausfordernde Räuspern Steinbrenners. Maries Atem wurde flach, dann kam er stoßweise, mit Pausen. Endlich wurde er leise und hörte auf, wie ein schwacher Wind, der einschläft. Steiner hielt ihre Hände, bis sie kalt wurden. Er starb mit. Als er aufstand, um hinauszugehen, war er ein gefühlloser Fremder, eine leere Hülle, die die Bewegung eines Menschen hatte. Er streifte die Schwester mit einem gleichgültigen Blick. Draußen wurde er von Steinbrenner und dem zweiten in Empfang genommen.»Über drei Stunden haben wir auf dich gewartet«, knurrte Steinbrenner.»Darüber werden wir uns öfter noch mal unterhalten, da kannst du sicher sein.«

»Ich bin sicher, Steinbrenner, dieser Dinge bin ich bei dir sicher.«

Steinbrenner leckte sich die Lippen.»Du weißt ja wohl, daß die Anrede für mich ›Herr Wachtmeister‹ ist, glaube ich, was? Sag ruhig weiter ›Steinbrenner‹ und ›Du‹ zu mir… aber für jedesmal wirst du wochenlang blutige Tränen weinen, mein Liebling. Ich hab’ ja jetzt Zeit mit dir.«

Sie gingen die breite Treppe hinunter, Steiner zwischen den beiden Wächtern. Es war ein milder Abend, und die bis zum Boden reichenden Fenster der oval geschwungenen Außenwand waren weit geöffnet. Es roch nach Benzin und einer Ahnung von Frühling.

»Ich habe ja so unendlich viel Zeit mit dir«, erklärte Steinbrenner langsam und vergnügt.»Dein ganzes Leben, mein Süßer. Und unsere Namen passen so schön… Steiner und Steinbrenner. Mal sehen, was wir daraus noch machen können.«

Steiner nickte nachdenklich. Das schräg geschnittene offene Fenster wurde größer, kam heran, ganz nahe, er gab Steinbrenner einen Stoß gegen das Fenster hin, sprang gegen ihn, über ihn und stürzte mit ihm zusammen ins Leere.

»SIE KÖNNEN DAS Geld ruhig nehmen«, sagte Marill zerstört und traurig. Er hat es mir ausdrücklich für Sie beide hiergelassen. Ich sollte es Ihnen geben, wenn er nicht zurückkommt.«

Kern schüttelte den Kopf. Er war gerade angekommen und saß schmutzig und abgerissen mit Marill in der Katakombe. Von Dijon aus war er als Beifahrer und Gehilfe eines Lastwagenzuges gefahren.

»Er kommt wieder«, sagte er.»Steiner kommt wieder.«

»Er kommt nicht wieder!«erwiderte Marill heftig.»Herrgott, machen Sie es einem doch nicht noch schwerer mit Ihrem dauernden: er kommt wieder! Er kommt nicht wieder! Hier, lesen Sie das!«

Er zog ein zerknittertes Telegramm aus der Tasche und warf es auf den Tisch. Kern nahm es und glättete es. Es war aus Berlin und an die Wirtin des Verdun gerichtet.»Herzliche Wünsche zum Geburtstag, Otto«, las er.