Meine Mutter hatte die unangenehme Gewohnheit, mir alle möglichen guten Mahnungen nachzurufen, - wenn ich zu Besuch oder zu einer Einladung ging. Ich hatte dann nicht nur meine besseren Kleider an und gewichste Schuhe, sondern auch ein Gefühl der Dignität meines Vorhabens und öffentlichen Auftretens und empfand es als Erniedrigung, daß die Leute auf der Straße es hören sollten, was für ehrenrührige Dinge meine Mutter mir nachzurufen hatte: «Vergiß auch nicht, eine Empfehlung von Papa und Mama auszurichten und deine Nase zu putzen - hast du ein Nastuch ? Und die Hände gewaschen ?» usw. Ich fand es durchaus unangebracht, meine die Inflation begleitenden Minderwertigkeitsgefühle dermaßen der Welt preiszugeben, wo ich doch schon aus Eigenliebe und Eitelkeit längst dafür gesorgt hatte, möglichst tadellos in Erscheinung zu treten. Diese Gelegenheiten bedeuteten mir
nämlich sehr viel. Auf dem Wege zum Hause, wo die Einladung stattfand, fühlte ich mich wichtig und würdig, wie immer, wenn ich an einem Werktag meine Sonntagskleider trug. Das Bild änderte sich aber beträchtlich, sobald ich in Sichtweite des fremden Hauses kam. Da überschattete mich der Eindruck der Größe und Macht dieser Leute. Ich fürchtete mich vor ihnen und hätte in meiner Kleinheit vierzehn Klafter tief in die Erde versinken mögen, wenn ich die Glocke läutete. Das Geläute, das innen ertönte, klang in meinen Ohren wie ein Verhängnis. Ich fühlte mich so kleinmütig und so ängstlich wie ein zugelaufener Hund. Das war jeweils am schlimmsten, wenn meine Mutter mich vorher «richtig» präpariert hatte. «Meine Schuhe sind dreckig, auch meine Hände. Ich habe kein Taschentuch, mein Hals ist schwarz», tönte es in meinen Ohren. - Dann richtete ich aus Trotz keine Empfehlungen aus oder benahm mich unnötigerweise bockig und scheu. Wenn es gar zu schlimm wurde, dachte ich an den geheimen Schatz im Estrich, der mir dann half, meine Menschenwürde wiederzufinden: ich erinnerte mich nämlich in meiner Verlorenheit, daß ich ja auch der Andere war - der mit dem unverletzlichen Geheimnis, dem Stein und dem kleinen Mann mit Gehrock und Zylinder.
Ich kann mich nicht daran erinnern, daß ich in meiner Jugend je an die Möglichkeit eines Zusammenhanges des «her Jesus», beziehungsweise des Jesuiten mit dem schwarzen Rock, der Männer im Gehrock und Zylinder an einem Grab, des grabähnlichen Loches in der Wiese und des unterirdischen Phallustempels mit dem Männchen in der Federschachtel dachte. Der Traum vo6m ithyphallischen Gotte war mein erstes großes Geheimnis, das Männchen war das zweite. Heute scheint es mir aber, als ob ich ein vages Gefühl der Verwandtschaft zwischen dem «Seelenstein» mit dem Stein, der auch «Ich» war, empfunden hätte.
Es ist mir bis heute, wo ich in meinem dreiundachtzigsten Lebensjahre meine Erinnerungen aufschreibe, nie ganz klar geworden, welchen Zusammenhang meine frühesten Erinnerungen haben:
sie sind wie die einzelnen Schosse eines unterirdischen, zusammenhängenden Rhizoms. Sie sind wie die Stationen eines unbewußten Entwicklungsganges. Während es mir immer unmöglicher wurde, ein positives Verhältnis zu dem «her Jesus» zu finden, erinnere ich mich, daß etwa vom elften Jahr an die Gottesidee anfing, mich zu interessieren. Ich fing an, zu Gott zu beten, was mich irgendwie befriedigte, weil es mir widerspruchslos schien. Gott war nicht
durch mein Mißtrauen kompliziert. Zudem war er kein Mensch mit schwarzem Rock und kein «her Jesus», der auf den Bildern mit bunten Kleidern behängt war, und mit dem die Leute so familiär taten. Er (Gott) war vielmehr ein einzigartiges Wesen, von dem man sich, wie ich gehört hatte, keine richtigen Vorstellungen machen konnte. Er war zwar so etwas wie ein sehr mächtiger alter Mann;
aber es hieß ja, zu meiner großen Befriedigung: «Du sollst dir kein Bildnis, noch irgend ein Gleichnis machen.» Man konnte also nicht so familiär mit ihm tun, wie mit dem «her Jesus», der kein «Geheimnis» war. Eine gewisse Analogie mit meinem Geheimnis auf dem Estrich fing an zu dämmern ...
Die Schule ödete mich an. Sie nahm mir zu viel Zeit, die ich lieber mit Schlachtenzeichnen und Feuerspielen ausgefüllt hätte. Die Religionsstunden waren unaussprechlich langweilig, und vor der Mathematikstunde empfand ich positive Angst. Der Lehrer gab sich den Anschein, daß Algebra ganz selbstverständlich sei, während ich noch nicht einmal wußte, was Zahlen an und für sich sind. Sie waren keine Blumen, keine Tiere, keine Versteinerung, nichts, was man sich vorstellen konnte, bloß Anzahlen, die sich durch Zählen ergaben. Die Anzahlen wurden zu meiner Verwirrung durch Buchstaben, die Laute bedeuteten, ersetzt, so daß man sie sozusagen hören konnte. Merkwürdigerweise konnten meine Kameraden damit umgehen und fanden das selbstverständlich. Niemand konnte mir sagen, was Zahlen sind, und ich konnte die Frage nicht formulieren. Zu meinem Schrecken fand ich, daß es auch niemanden gab, der meine Schwierigkeit verstand. Der Lehrer gab sich zwar, wie ich anerkennen muß, alle Mühe, um mir den Zweck dieser merkwürdigen Operation, verständliche Anzahlen in Laute umzusetzen, zu erklären. Ich verstand schließlich, daß damit eine Art Abkürzungssystem bezweckt war, mit dessen Hilfe viele Anzahlen in einer abgekürzten Formel dargestellt werden konnten.
Das interessierte mich aber ganz und gar nicht. Ich dachte mir, es sei doch ganz willkürlich, Zahlen durch Laute auszudrücken, man könnte auch ebensogut a als Apfelbaum, b als Birnbaum und x als Fragezeichen ausdrücken, a, b, c, y und x waren unanschaulich und erklärten mir nichts vom Wesen der Zahl, ebenso wenig wie der Apfelbaum. Am meisten empörte mich der Grundsatz: wenn a=b und b=c, dann ist a=c, wo es doch per definitionem feststand, daß a etwas anderes bezeichnete als b und daher als etwas
anderes nicht mit b gleichzusetzen war, geschweige denn mit c. Wenn es sich um eine Gleichsetzung handelt, dann heißt sie a = a, b = b usw., während a = b mir direkt als Lüge oder Betrug vorkam. Dieselbe Empörung empfand ich, wenn der Lehrer gegen seine eigene Definition der Para llelen behauptete, sie schnitten sich in der Unendlichkeit. Das erschien mir als eine alberne Bauernfängerei, die ich nicht mitmachen konnte und wollte. Meine intellektuelle Moral sträubte sich gegen diese spielerischen Inkonsequenzen, die mir den Zugang zum Verständnis der Mathematik versperrten. Ich habe bis in mein hohes Alter hinein unkorrigierbar das Gefühl, wenn ich damals wie meine Schulkameraden konfliktlos hätte annehmen können, daß a = b sein könnte, resp. Sonne = Mond, Hund = Katze usw., die Mathematik mich endlos hineingelegt hätte; inwiefern, davon habe ich erst mit dreiundachtzig Jahren eine gewisse Ahnung bekommen. Mein ganzes Leben hindurch aber blieb es mir ein Rätsel, wieso es mir nie gelingen sollte, ein Verhältnis zur Mathematik zu finden, wo es mir doch außer allem Zweifel stand, dass man gültig rechnen konnte. Am unverständlichsten aber erschien mir mein moralischer Zweifel an der Mathematik.
Ich konnte mir Gleichungen nur dadurch verständlich machen, daß ich jeweils für die Buchstaben bestimmte Zahlenwerte einsetzte und mir durch konkretes Nachrechnen den Sinn der Operation bestätigte. Ich konnte im weiteren Verlauf in Mathematik nur dadurch einigermaßen bestehen, daß ich die mir inhaltlich unverständlichen algebraischen Formeln abzeichnete und mir einprägte, welche Buchstabenkombination an welcher Stelle der Wandtafel gestanden hatte. Mit dem Nachrechnen kam ich nicht mehr aus, denn von Zeit zu Zeit kam es vor, daß der Lehrer sagte: «Hier setzen wir nun den .Ausdruck' ein» und ein paar Buchstaben an die Tafel malte. Ich wußte nicht woher und wozu - offenbar um ein ihn befriedigendes Ende der Prozedur zu ermöglichen. Ich war von der Tatsache meines Nichtverstehenkönnens dermaßen eingeschüchtert, daß ich schon gar nicht zu fragen wagte.