Das war nun leichter gedacht als getan. Auf meinem langen Weg nach Hause versuchte ich alle möglichen anderen Dinge zu denken, fand aber, daß meine Gedanken immer wieder zum schönen Münster, das ich so sehr liebte, und zum lieben Gott, der auf dem Throne saß, zurückkehrten, um wie von einem elektrischen Schlag getroffen, wieder davon wegzufliegen. Ich wiederholte mir immer: «Nur nicht daran denken, nur nicht daran denken!» Ich kam in einem ziemlich gestörten Zustand nach Hause. Meine Mutter merkte, daß etwas mit mir los war und fragte: «Was ist mit dir? Ist etwas in der Schule vorgefallen?» Ich konnte ihr, ohne zu lügen, versichern, daß nichts in der Schule passiert sei. Ich dachte zwar, es würde mir vielleicht helfen, wenn ich meiner Mutter den wirklichen Grund meiner Gestörtheit beichten könnte. Aber dann
müßte ich ja gerade das tun, was mir unmöglich schien, nämlich meine Gedanken zu Ende denken. Sie war ja ahnungslos, die Gute, und konnte unmöglich wissen, daß ich in der größten Gefahr stand, die unverzeihliche Sünde zu begehen und mich in die Hölle zu stürzen. Ich verwarf den Gedanken an ein Geständnis und versuchte mich so unauffällig wie möglich zu verhalten.
In der Nacht schlief ich schlecht; immer wieder versuchte sich der verbotene Gedanke, den ich nicht kannte, hervorzudrängen, und ich rang verzweifelt, ihn abzuwehren. Die nächsten zwei Tage waren qualvoll, und meine Mutter war überzeugt, daß ich krank sei. Ich widerstand der Versuchung zu beichten, wobei mir der Gedanke, daß ich durch Nachgeben meinen Eltern den größten Kummer bereiten würde, hilfreich war.
In der dritten Nacht aber wurde die Qual so groß, daß ich nicht mehr wußte, was tun. Ich war aus unruhigem Schlaf erwacht und ertappte mich gerade noch dabei, wieder ans Münster und an den lieben Gott zu denken. Beinahe hätte ich weitergedacht! Ich fühlte, daß meine Widerstandskräfte nachließen. Ich schwitzte vor Angst und setzte mich im Bett auf, um den Schlaf abzuschütteln: «Jetzt kommt es, jetzt gilt es ernst! Ich muß denken. Das muß zuvor ausgedacht werden. Warum soll ich das denken, was ich nicht weiß? Ich will es bei Gott nicht, das steht fest. Aber wer will es? Wer will mich zwingen, etwas zu denken, das ich nicht weiß und nicht will? Woher kommt dieser furchtbare Wille? Und warum sollte gerade ich ihm unterworfen sein? Ich habe mit Lob und Preis an den Schöpfer dieser schönen Welt gedacht, ich war ihm dankbar für dieses unermeßliche Geschenk, und warum sollte gerade ich etwas unvorstellbar Böses denken ? Ich weiß es wirklich nicht, denn ich kann und darf mich ja nicht einmal in die Nähe dieses Gedankens wagen, ohne zu riskieren, ihn sofort denken zu müssen. Das habe ich nicht gemacht und gewollt. Es ist an mich gekommen wie ein böser Traum. Woher kommen solche Dinge? Es ist mir passiert ohne mein Zutun. Wieso? Ich habe mich doch nicht selber geschaffen, sondern ich bin so auf die Welt gekommen, wie mich Gott gemacht hat, d. h. wie ich aus meinen Eltern zustandegekommen bin. Oder haben vielleicht meine Eltern solches gewollt? Meine guten Eltern hätten aber an so etwas überhaupt nie gedacht. So etwas Verruchtes wäre ihnen nie eingefallen.»
Ich fand diese Idee geradezu lächerlich. Dann dachte ich an meine Großeltern, die ich nur von ihren Po rtraits her kannte. Sie
sahen wohlwollend und würdig genug aus, um meine Idee von ihrer möglichen Schuld zu entmutigen. Ich durchflog die lange Reihe unbekannter Ahnen, um schließlich bei Adam und Eva anzulangen. Und damit kam der entscheidende Gedanke: Adam und Eva sind die ersten Menschen; sie hatten keine Eltern, sondern sind von Gott direkt und absichtlich so geschaffen worden, wie sie waren. Sie hatten keine Wahl, sondern mußten so sein, wie sie Gott geschaffen hatte. Sie wußten ja gar nicht, wie sie hätten anders sein können. Sie waren vollkommene Geschöpfe Gottes, denn Er schafft nur Vollkommenes, und doch haben sie die erste Sünde begangen, weil sie taten, was Gott nicht wollte. Wieso war das möglich? Sie hätten es gar nicht tun können, wenn Gott die Möglichkeit nicht in sie gelegt hätte. Das geht ja auch hervor aus der Schlange, die Gott schon vor ihnen geschaffen hatte, offenbar zu dem Zwecke, daß sie Adam und Eva überreden sollte. Gott in Seiner Allwissenheit hat alles so angeordnet, daß die ersten Eltern die Sünde begehen mußten. Es war also die Absicht Gottes, daß sie sündigen mußten.
Dieser Gedanke befreite mich auf der Stelle von meiner ärgsten Qual, denn ich wußte nun, daß Gott selber mich in diesen Zustand gebracht hatte. Ich wußte zunächst nicht, ob Er damit meinte, ich solle die Sünde begehen oder eben gerade nicht. Ich dachte nicht mehr ans Beten um Erleuchtung, denn Gott hatte mich ohne meinen Willen in diese Situation gebracht und mich ohne Beistand darin gelassen. Ich war sicher, daß ich nach Seiner Meinung selber und allein den Ausweg suchen mußte. Damit hob ein weiteres Argument an:
«Was will Gott? Das Tun oder das Nichttun? Ich muß herausfinden, was Gott will und zwar jetzt und mit mir.» Ich wußte zwar, daß es nach der hergebrachten Moral ganz selbstverständlich war, die Sünde zu vermeiden. Das hatte ich eben bis jetzt getan und wußte, daß ich es nicht weiter tun konnte. Mein gestörter Schlaf und meine seelische Not hatten mich so heruntergebracht, daß mein Nichtdenkenwollen zu einem unerträglichen Krampf wurde. Das konnte so nicht weitergehen. Ich konnte aber unmöglich nachgeben, bevor ich verstand, was Gottes Wille war und was Er bezweckte. Ich war nämlich dessen sicher, daß Er der Urheber dieser verzweifelten Schwierigkeit war. Merkwürdigerweise dachte ich nicht einen Moment, daß mir der Teufel einen Streich spielen könnte. Er spielte in meiner damaligen Geistesverfassung eine geringe Rolle und war
Gott gegenüber sowieso machtlos. Etwa vom Moment meines Aus-demNebel-Heraustretens und Ichwerdens an hatten die Einheit, Größe und Übermenschlichkeit Gottes begonnen, meine Phantasie zu beschäftigen. So stand es für mich außer Frage, daß es Gott war, der eine entscheidende Probe mit mir anstellte, und daß alles darauf ankam, Ihn richtig zu verstehen. Ich wußte zwar, daß mein schließliches Nachgeben erzwungen würde; es sollte aber nicht erfolgen ohne mein Verstehen, denn es ging um mein ewiges Seelenheiclass="underline" «Gott weiß, daß ich nicht mehr lange widerstehen kann und hilft mir nicht, obwohl ich im Begriff stehe, zu der Sünde, die nicht vergeben wird, gezwungen zu werden. Vermöge Seiner Allmacht könnte Er leicht diesen Zwang von mir wegnehmen. Er tut es aber nicht. Sollte es sein, daß Er meinen Gehorsam prüfen will, indem Er mir die ungewöhnliche Aufgabe stellt, etwas zu tun, wogegen ich mich aus allen Kräften sträube, weil ich die ewige Verdammnis fürchte? Denn ich würde mich gegen mein eigenes moralisches Urteil und gegen die Lehren meiner Religion, ja gegen Sein eigenes Gebot vergehen. Könnte es sein, daß Gott sehen möchte, ob ich imstande sei, Seinem Willen zu gehorchen, obwohl mich mein Glaube und meine Einsicht mit Hölle und Verdammnis schrecken ? Das könnte es wahrhaftig sein! Aber das sind bloß meine Gedanken. Ich kann mich irren. Ich kann es nicht wagen, mich dermaßen meinen eigenen Überlegungen anzuvertrauen. Ich muß es nochmals durchdenken!»
Ich kam aber wieder zum selben Schluß. «Gott will offenbar auch meinen Mut», dachte ich. «Wenn dem so ist und ich tue es, dann wird Er mir Seine Gnade und Erleuchtung geben.»
Ich faßte allen Mut zusammen, wie wenn ich in das Höllenfeuer zu springen hätte und ließ den Gedanken kommen: Vor meinen Augen stand das schöne Münster, darüber der blaue Himmel, Gott sitzt auf goldenem Thron, hoch über der Welt, und unter dem Thron fällt ungeheures Exkrement auf das neue bunte Kirchen-dach, zerschmettert es und bricht die Kirchenwände auseinander