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Das war es also. Ich spürte eine ungeheure Erleichterung und eine unbeschreibliche Erlösung. An Stelle der erwarteten Verdammnis war Gnade über mich gekommen und damit eine unaussprechliche Seligkeit, wie ich sie nie gekannt hatte. Ich weinte vor Glück und Dankbarkeit, daß sich mir Weisheit und Güte Gottes enthüllt hatten, nachdem ich Seiner unerbittlichen Strenge erlegen war. Das gab mir das Gefühl, eine Erleuchtung erlebt zu haben.

Vieles wurde mir klar, was ich zuvor nicht verstehen konnte. Ich hatte erfahren, was mein Vater nicht begriffen hatte - den Willen Gottes, dem er sich aus den besten Gründen und dem tiefsten Glauben widersetzte. Darum hatte er auch nie das Wunder der Gnade erlebt, die alles heilt und alles verständlich macht. Er hatte sich die Gebote der Bibel zur Richtschnur genommen, er glaubte an Gott, so wie es in der Bibel steht und wie seine Väter ihn gelehrt haben. Aber er kannte nicht den lebendigen unmittelbaren Gott, der allmächtig und frei über Bibel und Kirche steht, den Menschen zu seiner Freiheit aufruft und ihn zwingen kann, auf seine eigenen Ansichten und Überzeugungen zu verzichten, um Seine Forderung unbedingt zu erfüllen. Gott läßt sich in Seiner Erprobung des menschlichen Mutes nicht beeinflussen durch Traditionen und wären sie noch so heilig. Er wird in Seiner Allmacht schon dafür sorgen, daß bei solchen Mutproben nicht etwas wirklich Böses herauskommt. Wenn man den Willen Gottes erfüllt, kann man sicher sein, den richtigen Weg zu gehen.

Gott hatte auch Adam und Eva so geschaffen, daß sie denken mußten, was sie nicht denken wollten. Er tat das, um zu wissen, daß sie gehorsam sind. So kann Er auch von mir etwas verlangen, das ich aus religiöser Tradition heraus ablehnen möchte. Aber der Gehorsam ist es gewesen, der mir die Gnade gebracht hat, und seit jenem Erlebnis wußte ich, was göttliche Gnade ist. Ich hatte erfahren, daß ich Gott ausgeliefert bin, und daß es auf nichts anderes ankommt, als Seinen Willen zu erfüllen. Sonst bin ich dem Unsinn preisgegeben. - Damals hat meine eigentliche Verantwortlichkeit begonnen. Der Gedanke, den ich denken mußte, war mir schrecklich, und mit ihm erwachte die Ahnung, daß Gott etwas Furchtbares sein könnte. Es war ein furchtbares Geheimnis, das ich erlebt hatte, und es bedeutete für mich eine angstvolle und dunkle Angelegenheit. Sie überschattete mein Leben, und ich wurde sehr nachdenklich.

Ich habe das Erlebnis auch als meine Minderwertigkeit empfunden. Ich bin ein Teufel oder ein Schwein, dachte ich, irgend etwas Verworfenes. Aber dann begann ich im Geheimen die Bibel meines Vaters zu erforschen. Mit einer gewissen Genugtuung las ich im Evangelium vom Pharisäer und Zöllner und fand, daß gerade die Verworfenen die Auserwählten seien. Daß der ungetreue Haushalter gelobt wird, und daß Petrus, der Wanke lmütige, zum Fels ernannt wird, machte mir nachhaltigen Eindruck.

Je größer meine Minderwertigkeitsgefühle waren, desto unfaßlicher erschien mir die Gnade Gottes. Ich war ja nie sicher über mich selber. Als meine Mutter einmal sagte: «Du warst immer ein guter Junge», konnte ich das gar nicht fassen. - Ich ein guter Junge ? Das war eine Neuigkeit. Ich dachte immer, ich sei ein verdorbener oder minderwertiger Mensch.

Mit jenem Erlebnis vom Münster war endlich etwas Tatsächliches vorhanden, das zum großen Geheimnis gehörte - so als hätte ich immer von Steinen gesprochen, die vom Himmel fallen, und nun hielte ich einen in der Hand. Aber es war ein beschämendes Erlebnis. Ich war in etwas Übles hineingestoßen, in etwas Böses oder Finsteres, und es war doch zugleich wie eine Auszeichnung. Manchmal verspürte ich einen merkwürdigen Drang zu reden, ohne eigentlich zu wissen wovon. Ich wollte ausprobieren und anfragen, ob andere Leute auch solche Erfahrungen gemacht hätten, oder wollte andeuten, daß es merkwürdige Dinge gäbe, von denen man nichts wisse. Es ist mir nie gelungen, auch nur eine Spur davon bei anderen aufzufinden. So bekam ich das Gefühl, ausgestoßen oder auserwählt, verflucht oder gesegnet zu sein.

Es wäre mir jedoch nie in den Sinn gekommen, von meinem Erlebnis direkt zu reden, noch vom Traum mit dem Phallus im unterirdischen Tempel oder vom geschnitzten Männchen, solange letzteres noch erinnerbar war. Ich wußte, daß ich das nicht könnte. Vom Phallustraum habe ich erst gesprochen, als ich fünfundsechzig Jahre alt war. Die anderen Erlebnisse habe ich vielleicht meiner Frau mitgeteilt, aber auch erst in späteren Jahren. Jahrzehntelang lag von der Kindheit her ein strenges Tabu darauf.

Meine ganze Jugend kann unter dem Begriff des Geheimnisses verstanden werden. Ich kam dadurch in eine fast unerträgliche Einsamkeit, und ich sehe es heute als eine große Leistung an, daß ich der Versuchung widerstand, mit jemandem davon zu sprechen. So war damals schon meine Beziehung zur Welt vorgebildet, wie sie heute ist: auch heute bin ich einsam, weil ich Dinge weiß und andeuten muß, die die anderen nicht wissen und meistens auch gar nicht wissen wollen.

In der Familie meiner Mutter waren sechs Pfarrer, und nicht nur mein Vater war Pfarrer, sondern auch zwei seiner Brüder. So hörte ich viele religiöse Gespräche, theologische Diskussionen und Predigten. Dabei hatte ich immer das Gefühclass="underline" «Ja, ja, das ist ganz

schön. Aber wie verhält es sich mit dem Geheimnis? Es ist ja auch das Geheimnis der Gnade. Ihr wißt nichts davon. Ihr wißt nicht, daß Gott will, daß ich sogar das Unrecht tue, das Verfluchte denke, um Seine Gnade zu erleben.» Alles, was die anderen sagten, traf daneben. Ich dachte: «Um Gottes willen, irgend jemand muß doch etwas davon wissen. Irgendwo muß doch die Wahrheit stehen.» Ich stöberte in der Bibliothek meines Vaters und las, was ich nur finden konnte über Gott, Trinität, Geist, Bewußtsein. Ich habe die Bücher verschlungen und bin nicht klug daraus geworden. Immer wieder mußte ich denken: «Die wissen es auch nicht!» Ich las auch in der LutherBibel meines Vaters. Unglücklicherweise hatte mir die übliche «erbauliche» Deutung des Hiob-Buches jedes tiefere Interesse daran genommen. Sonst hätte ich einen Trost darin gefunden, nämlich IX, 30 sq. «Wenn ich mich gleich mit Schneewasser wüsche... so wirst du mich doch tuncken in den Koth.»

Meine Mutter erzählte mir später, ich sei in jener Zeit oft deprimiert gewesen. Das war ich nicht eigentlich; sondern ich war beschäftigt mit dem Geheimnis. Da war es eine merkwürdig selige Beruhigung, auf jenem Stein zu sitzen. Der hat mich von allen Zweifeln befreit. Wenn ich dachte, ich sei der Stein, hörten die Konflikte auf. «Der Stein hat keine Unsicherheit, hat keinen Drang, sich mitzuteilen und ist ewig, lebt für die Jahrtausende», dachte ich. «Ich selber hingegen bin nur ein vorübergehendes Phänomen, das in allen möglichen Emotionen aufgeht, wie eine Flamme, die rasch auflodert und dann verlischt.» Ich war die Summe meiner Emotionen und ein Anderes in mir war der zeitlose Stein.

II

Damals kamen auch profunde Zweifel an allem, was mein Vater sagte. Wenn ich ihn über die Gnade predigen hörte, dachte ich immer an mein Erlebnis. Was er sagte, klang schal und hohl, wie wenn einer eine Geschichte erzählte, die er selber nicht ganz glauben kann oder nur vom Hörensagen kennt. Ich wollte ihm helfen, doch wußte ich nicht wie. Auch hielt mich eine Scheu zurück, ihm mein Erlebnis mitzuteilen oder mich in seine persönliche Präokkupation einzumischen. Dazu fühlte ich mich einerseits zu klein, und andererseits fürchtete ich mich davor, jenes Gefühl von Autorität, das mir meine «zweite Persönlichkeit» einflößte, zur Geltung zu bringen.

Ich habe später, als ich achtzehn Jahre alt war, viele Diskussionen mit meinem Vater gehabt, immer mit der heimlichen Hoffnung, ihn etwas von der wunderwirkenden Gnade wissen zu lassen und ihm dadurch in seinen Gewissensnöten zu helfen. Ich war überzeugt, daß, wenn er den Willen Gottes erfüllte, sich alles zum Besten wenden würde. Unsere Diskussionen hatten aber immer ein unbefriedigendes Ende. Sie reizten und betrübten ihn. «Ach was», pflegte er zu sagen, «du willst immer denken. Man soll nicht denken, sondern glauben.» - Ich dachte: Nein, man muß erfahren und wissen - sagte aber: «Gib mir diesen Glauben», worauf er sich jeweils achselzuckend und resigniert abwandte.