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Ich begann Freundschaften zu schließen, meistens mit scheuen Jungen einfacher Herkunft. Meine Schulzeugnisse verbesserten sich. In den folgenden Jahren brachte ich es sogar zum Klassenersten. Ich bemerkte aber, daß unter mir welche waren, die mich beneideten und mich bei jeder Gelegenheit überholen wollten. Das verdarb mir die Laune. Mir waren alle Wettbewerbe verhaßt, und wenn einer aus dem Spiel eine Konkurrenz machte, kehrte ich dem Spiel den Rücken. Ich blieb von da an Zweiter, was mir bedeutend angenehmer war. Die

Schularbeit war mir lästig genug, so daß ich sie mir nicht noch durch Konkurrenzstreberei erschweren wollte. Einige wenige Lehrer, derer ich mit Dankbarkeit gedenke, schenkten mir ein besonderes Zutrauen. Vor allem war es der Lateinlehrer, an den ich gern zurückdenke. Er war Universitätspro fessor und ein sehr gescheiter Mann. Nun kannte ich Latein schon seit meinem sechsten Lebensjahr, weil mein Vater mich darin unterrichtet hatte. So hat mich dieser Lehrer öfters auf die Universitätsbibliothek geschickt, um ihm während der Exerzitien Bücher zu holen, die ich dann auf dem möglichst verlängerten Rückweg mit Entzücken durchschnüffelte.

Den meisten Lehrern galt ich für dumm und verschlagen. Wenn irgend etwas in der Schule schief ging, so wurde in erster Linie ich verdächtigt. Gab es irgendwo eine Keilere i, so wurde vermutet, daß ich der Anstifter gewesen sei. In Wirklichkeit war ich nur einmal in eine Keilerei verwickelt, bei der ich entdeckte, daß ich eine Anzahl Kameraden hatte, die mir feindlich gesinnt waren. Sie legten mir einen Hinterhalt - es waren ihrer sieben - und fielen mich unvermutet an. Damals, mit fünfzehn Jahren, war ich schon stark und groß und war zu Jähzorn geneigt. Ich sah plötzlich Feuer, packte einen an beiden Armen, schwang ihn um mich und schlug

mit seinen Beinen ein paar andere zu Boden. Die Sache wurde den Lehrern bekannt, aber ich erinnere mich nur dunkel an ein Strafverfahren, das mir ungerecht erschien. Von da an aber hatte ich Ruhe. Keiner wagte sich mehr an mich.

Daß ich Feinde hatte und daß man mich meistens ungerechterweise verdächtigte, war mir zwar unerwartet, aber irgendwie nicht unverständlich. Alles, was mir vorgeworfen wurde, ärgerte mich, aber ich konnte es vor mir selber nicht abstreiten. Ich wußte von mir so wenig, und das Wenige war so widerspruchsvoll, daß ich keinen Tadel mit gutem Gewissen abweisen konnte. Ich hatte eigentlich immer ein schlechtes Gewissen und war mir aktueller sowie potentieller Schuld bewußt. Darum war ich für Vorwürfe besonders empfindlich, denn sie trafen alle mehr oder weniger ins Schwarze. Wenn ich es auch nicht in Wirklichkeit getan hatte, so hätte ich es doch wohl tun können. Manchmal machte ich mir sogar Alibi-Notizen für den Fall, daß ich angeklagt würde. Ich fühlte mich direkt erleichtert, wenn ich wirklich etwas angestellt hatte. Dann wußte ich wenigstens, wohin das schlechte Gewissen gehörte.

Natürlich kompensierte ich meine innere Unsicherheit durch äußerliche Sicherheit, oder - besser gesagt - der Defekt kompensierte sich selbst, ohne meinen Willen. Ich fand mich selber vor als einen, der schuldig ist und zugleich unschuldig sein wollte. Im Hintergrund wußte ich immer, daß ich Zwei war. Der eine war der Sohn seiner Eltern; der ging zur Schule und war weniger intelligent, aufmerksam, fleißig, anständig und sauber als viele andere;

der andere hingegen war erwachsen, ja alt, skeptisch, mißtrauisch, der Menschenwelt fern. Dafür stand er vor der Natur, der Erde, der Sonne, dem Mond, dem Wetter, der lebenden Kreatur und vor allem auch der Nacht, den Träumen und was immer «Gott» in mir unmittelbar bewirkte. Ich setze hier «Gott» in Anführungszeichen. Die Natur erschien mir nämlich, so wie ich selber, von Gott abgesetzt, als Nicht-Gott, obschon von Ihm als Ausdruck Seiner Selbst geschaffen. Es wollte mir nicht in den Kopf, daß die Ebenbildlichkeit sich nur auf den Menschen beziehen sollte. Ja, es schien mir, daß die hohen Berge, Flüsse, Seen, die schönen Bäume, Blumen und Tiere viel mehr das Wesen Gottes verdeutlichten als die Menschen in ihren lächerlichen Kleidern, in ihrer Gemeinheit, Dummheit, Eitelkeit, Lügenhaftigkeit und ihrer abscheulichen Eigenliebe. Alle diese Eigenschaften kannte ich nur zu gut aus mir selber, d. h. aus jener Persönlichkeit Nr. l, dem Schuljungen von 1890. Daneben gab es jedoch einen Bereich, wie einen Tempel, in dem jeder Eintretende gewandelt wurde. Von der Anschauung des Weltganzen überwältigt und seiner selbst vergessend konnte er nur noch wundern und bewundern. Hier lebte «der Andere», der Gott als ein heimliches, persönliches und zugleich überpersönliches Geheimnis kannte. Hier trennte nichts den Menschen von Gott. Ja, es war, wie wenn der menschliche Geist zugleich mit Gott auf die Schöpfung blickte.

Was ich heute in Sätze auseinandergefaltet ausdrücke , war mir damals allerdings nicht in artikulierter Form bewußt, wohl aber in überwältigender Ahnung und im tiefsten Gefühl. Sobald ich allein war, konnte ich in diesen Zustand hinübertreten. Hier wußte ich mich würdig und als eigentlichen Menschen. Ich suchte daher die Ungestörtheit und das Alleinsein des anderen, des Nr. 2.

Spiel und Gegenspiel zwischen den Persönlichkeiten Nr. l und Nr. 2, die sich durch mein ganzes Leben zogen, haben nichts mit einer «Spaltung» im üblichen medizinischen Sinne zu tun. Im Gegenteil, sie werden bei jedem Menschen gespielt. Vor allem sind es die Religionen, die seit jeher zu Nr. 2 des Menschen, zum «inneren Menschen», gesprochen haben. In meinem Leben hat Nr. 2 die Hauptrolle gespielt, und ich habe immer versucht, dem freien Lauf zu lassen, was von Innen her an mich heranwollte. Nr. 2 ist eine typische Figur; meist reicht aber das bewußte Verstehen nicht aus zu sehen, daß man das auch ist.

Die Kirche wurde mir allmählich zur Qual, denn dort wurde laut - ich möchte fast sagen: schamlos - von Gott gepredigt, was Er beabsichtigt, was Er tut. Die Leute wurden ermahnt, jene Gefühle zu haben, jenes Geheimnis zu glauben, von dem ich wußte, daß es die innerste, innigste, durch kein Wort zu verratende Gewißheit war. Ich konnte daraus nur schließen, daß anscheinend niemand um dieses Geheimnis wußte, nicht einmal der Pfarrer;

denn sonst hätten sie es nie wagen können, in aller Öffentlichkeit das Gottesgeheimnis preiszugeben und die unsäglichen Gefühle mit abgeschmackten Sentimentalitäten zu profanieren. Überdies war ich sicher, daß dies der verkehrte Weg war, um zu Gott zu gelangen, denn ich wußte ja aus Erfahrung, daß diese Gnade nur dem zuteil wird, der den Willen Gottes unbedingt erfüllt. Das wurde zwar auch gepredigt, aber immer mit der Voraussetzung, daß der Wille Gottes durch die Offenbarung bekannt sei. Mir hingegen

kam er als das Allerunbekannteste vor. Mir schien es, als ob man eigentlich täglich den Willen Gottes erforschen müsse. Ich tat es zwar nicht, aber es war mir sicher, daß ich es tun würde, sobald sich ein dringender Anlaß dazu präsentierte. Nr. l nahm mich zu oft und zu viel in Anspruch. Es schien mir oft, als ob man die religiösen Vorschriften sogar an Stelle des Gotteswillens, der ja so unerwartet und erschreckend sein konnte, setzte, und zwar zu dem Zweck, den Gotteswillen nicht verstehen zu müssen. Ich wurde immer skeptischer, und die Predigten meines Vaters und anderer Pfarrer wurden mir peinlich. Alle Menschen meiner Umgebung schienen den Jargon und die dichte Dunkelheit, die er ausstrahlte, als selbstverständlich zu empfinden und gedankenlos alle Wider-Sprüche zu schlucken, wie z. B. daß Gott allwissend sei und natürlich die Menschheitsgeschichte vorausgesehen habe. Er hat die Menschen so geschaffen, daß sie sündigen mußten, und trotzdem verbietet Er die Sünde und bestraft sie sogar mit ewiger Verdammnis in der Feuerhölle.