Der Teufel spielte lange Zeit keine Rolle in meinen Gedanken. Er erschien mir als der böse Hofhund eines mächtigen Mannes. Niemand hatte die Verantwortung für die Welt als Gott, und Er war, wie ich nur zu gut wußte, auch furchtbar. Es wurde mir zunehmend fragwürdiger und unheimlicher, wenn der «liebe Gott», die Liebe Gottes zum Menschen und die des Menschen zu Gott in den gefühlvollen Predigten meines Vaters angepriesen und anempfohlen wurden. Der Zweifel wurde wach in mir: Weiß er eigentlich, wovon er spricht? Könnte er mich, seinen Sohn, als Menschenopfer abstechen lassen wie Isaak oder einem ungerechten Gerichtshof ausliefern, der ihn kreuzigen ließe wie Jesum? Nein, das könnte er nicht. Also könnte er gegebenenfalls den Willen Gottes, der, wie die Bibel selber zeigt, schlechthin furchtbar sein kann, nicht erfüllen. - Es wurde mir klar, daß wenn unter anderm gemahnt wurde, Gott mehr zu gehorchen als den Menschen, das nur so obenhin und gedankenlos gesagt wurde. Man kannte offenbar den Willen Gottes ganz und gar nicht, denn sonst würde man dieses zentrale Problem mit heiliger Scheu behandeln, schon aus reiner Furcht vor dem Gott, der übermächtig Seinen erschreckenden Willen beim hilflosen Menschen durchsetzen kann, wie es mir geschehen war. Hätte jemand, der den Willen Gottes zu kennen vorgibt, voraussehen können, zu was Er mich veranlaßt hatte? Im Neuen Testament stand jedenfalls nichts dergleichen. Das Alte
Testament, vor allem das Buch Hiob, welches mich in dieser Hinsicht hätte erleuchten können, war mir damals noch zu unbekannt, und auch im Konfirmationsunterricht, in dem ich damals stand, hörte ich nichts Ähnliches. Die Gottesfurcht, die natürlich erwähnt wurde, galt als antiquiert, als «jüdisch» und war längst überholt durch die christliche Botschaft der Liebe und Güte Gottes.
Die Symbolik in meinen Kindheitserlebnissen und die Gewalttätigkeit der Bilder haben mich aufs äußerste gestört. Ich fragte mich: «Wer spricht eigentlich so? Wer hat die Unverschämtheit, einen Phallus so nackt und in einem Tempel darzustellen? Wer macht mich denken, daß Gott so abscheulich Seine Kirche zerstört? War es der Teufel, der das arrangiert hat?» Ich habe nie daran gezweifelt, daß es Gott oder der Teufel gewesen war, der so sprach und solches tat, denn ich fühlte genau, daß nicht ich es war, der die Gedanken und Bilder sich ersonnen hatte.
Das waren die entscheidenden Ereignisse meines Lebens. Damals ist es mir aufgegangen: ich bin verantwortlich, und es liegt an mir wie sich mein Schicksal gestaltet. Es ist mir ein Problem gestellte auf das ich antworten muß. Und wer stellt das Problem ? Das hat mir niemand beantwortet. Ich wußte, daß ich es selber aus eigenstem Innern zu beantworten hätte: ich war allein vor Gott, und Gott allein fragte mich diese schrecklichen Dinge. Von Anfang an war das Gefühl einer Schicksalsbestimmtheit sondergleichen in mir, so als sei ich hineingestellt in ein Leben, das zu erfüllen war. Es gab eine innere Sicherheit, die ich mir nie beweisen konnte. Aber sie war mir bewiesen. Ich hatte die Sicherheit nie, aber sie hatte mich, oft gegen alle Überzeugung vom Gegenteil. Niemand hat mir die Gewißheit nehmen können, daß ich gesetzt sei, das zu tun, was Gott will und nicht, was ich will. Das gab mir oft das Gefühl, in allen entscheidenden Dingen nicht mit den Menschen, sondern allein mit Gott zu sein. Immer, wenn ich «dort» war, wo ich nicht mehr allein war, befand ich mich außerhalb der Zeit. Ich war in den Jahrhunderten, und Der, der dann Antwort gab, war Der, welcher schon immer gewesen war und immer ist. Die Gespräche mit jenem «Anderen» waren meine tiefsten Erlebnisse:
einesteils blutiger Kampf, andererseits höchstes Entzücken.
Über diese Dinge konnte ich natürlich mit niemandem reden. Ich wußte von niemandem in meiner Umgebung, dem ich mich hätte mitteilen können, außer unter Umständen meiner Mutter. Sie
schien ähnlich zu denken wie ich. Aber bald merkte ich, daß sie mir im Gespräch nicht genügte. Sie hat mich vor allem bewundert, und das war nicht gut für mich. So blieb ich mit meinen Gedanken allein. Das war ich auch am liebsten. Ich habe allein für mich gespielt, bin allein gewandert, habe geträumt und hatte eine geheimnisvolle Welt für mich allein.
Meine Mutter war mir eine sehr gute Mutter. Sie hatte eine große animalische Wärme, war ungeheuer gemütlich und sehr korpulent. Sie hatte für alle Leute ein Ohr; auch plauderte sie gern, und das war wie ein munteres Geplätscher. Sie hatte eine ausgesprochene literarische Begabung, Geschmack und Tiefe. Aber das kam eigentlich nirgends recht zum Ausdruck; es blieb verborgen hinter einer wirklich lieben dicken alten Frau, die sehr gastfreundlich war, ausgezeichnet kochte und viel Sinn hatte für Humor. Sie hatte alle hergebrachten traditionellen Meinungen, die man haben kann, aber handkehrum trat bei ihr eine unbewußte Persönlichkeit in Erscheinung, die ungeahnt mächtig war - eine dunkle, große Gestalt, die unantastbare Autorität besaß - darüber gab's keinen Zweifel. Ich war sicher, daß auch sie aus zwei Personen bestand:
die eine war harmlos und menschlich, die andere dagegen schien mir unheimlich. Sie kam nur zeitweise zum Vorschein, aber immer unerwartet und erschreckend. Sie sprach dann wie zu sich selber, aber das Gesagte galt mir und traf mich gewöhnlich im Innersten, so daß ich in der Regel sprachlos war.
Der erste Fall, an den ich mich zu erinnern vermag, ereignete sich, als ich etwa sechs Jahre alt war, aber noch nicht zur Schule ging. Wir hatten damals Nachbarn, die leidlich situierte Leute waren. Sie hatten drei Kinder. Das älteste war ein Sohn, etwa von meinem Alter, und zwei jüngere Schwestern. Es waren eigentlich Stadtleute, die ihre Kinder namentlich sonntags in einer mir lächerlichen Weise herausputzten - Glanzschühchen, Spitzenhöschen, weiße Handschühchen, sauber gewaschen und gekämmt auch am Werktag. Die Kinderchen hielten sich ängstlich fern von dem großen Lausbuben mit zerrissenen Hosen, löcherigen Schuhen und schmutzigen Händen und hatten ein feines Benehmen. Meine Mutter ärgerte mich grenzenlos mit Vergleichen und Ermahnungen:
«Sieh dir diese netten Kinder an, die sind wohlerzogen und höflich, und du bist ein Flegel, mit dem man nichts anfangen kann.» Solche Ermahnungen taten es mir an, und ich beschloß, den Jungen durchzuhauen. Was dann auch geschah. Über dieses Malheur
wutentbrannt, eilte seine Mutter zu meiner Mutter und protestierte mit bewegten Worten gegen meine Gewalttat. Meine Mutter war dementsprechend entsetzt und hielt mir eine lange, mit Tränen gewürzte Strafrede, wie ich sie von ihr noch nie erlebt hatte. Ich war mir nämlich keiner Schuld bewußt, sondern blickte mit Befriedigung auf meine Tat zurück, denn es schien mir, als ob ich die Unzugehörigkeit dieses Fremdlings im Dorfe irgendwie wett gemacht hätte. Ich war von der Aufregung meiner Mutter tief beeindruckt und zerknirscht und zog mich hinter unser altes Spinett an mein Tischchen zurück, wo ich mit meinen Bauklötzchen zu spielen anfing. Es herrschte für geraume Zeit Stille. Meine Mutter hatte sich an ihren gewohnten Platz ans Fenster zurückgezogen und strickte. Da hörte ich sie murmeln und aus einzelnen Worten, die ich aufschnappte, konnte ich entnehmen, daß sie sich mit der vorgefallenen Geschichte beschäftigte, aber diesmal im entgegengesetzten Sinn. Irgendwie klang es, als ob sie mich rechtfertigte. Plötzlich sagte sie laut: «Man hätte natürlich einen solchen Wurf auch gar nie behalten sollen!» Ich wußte ebenso plötzlich, daß sie von den geputzten «Affenkindern» sprach. Ihr Lieblingsbruder war ein Jäger, der Hunde hielt und immer von Hundezucht, Bastarden, Rassen und Würfen sprach. Ich stellte zu meiner Erleichterung fest, daß auch sie diese odiosen Kinder als minderwertige Bastarde betrachtete, und daß ihre Strafpredigt daher nicht für baren Ernst genommen werden durfte. Ich wußte aber dazumal schon, daß ich mich mäuschenstill zu verhalten hatte und ja nicht etwa triumphierend ihr vorhalten durfte: «Siehst du, du bist auch meiner Ansicht.» - Denn sie hätte etwas dergleichen mit Entrüstung zurückgewiesen: «Abscheulicher Bub, wie kannst du deiner Mutter solche Roheiten andichten!» Ich schließe daraus, daß schon eine Reihe von früheren Erfahrungen ähnlicher Art, welche ich aber vergessen habe, vorgelegen haben müssen.