Wie es Sitte war, hatte ich als Paten ein Mitglied der Kirchenpflege, einen mir sympathischen alten, schweigsamen Mann, einen Wagner, in dessen Werkstatt ich oft seine geschickte Arbeit an der Drehbank und mit dem Zimmermannsbeil beobachtet hatte. Er kam, feierlich verwandelt durch Gehrock und Zylinder und brachte mich zur Kirche, wo mein Vater im wohlbekannten Ornat, hinter dem Altar stehend, Gebete aus der Liturgie vorlas. Auf dem Altartisch befanden sich große Platten, auf denen kleine Brotstücke lagen. Das Brot stammte, wie ich sah, von dem Bäcker, der wenig gutes und fade schmeckendes Brot lieferte. Aus einer zinnernen Kanne wurde Wein in einen zinnernen Becher geschüttet. Mein Vater aß ein Stückchen Brot, trank einen Schluck Wein, von dem ich wußte, aus welchem Wirtshaus er vorher geholt worden war, und gab den Becher einem der alten Männer weiter. Alle waren steif, feierlich, teilnahmslos, wie mir schien. Ich schaute gespannt zu, konnte aber nicht sehen und erraten, ob etwas Besonderes in ihnen vorging. Es war wie bei allen kirchlichen Handlungen, bei Taufen, Begräbnissen usw. Ich hatte den Eindruck, daß hier etwas vorgenommen und in hergebracht richtiger Weise durchgeführt wurde. Auch mein Vater schien sich Mühe zu geben, die Sache vor allem der Regel entsprechend durchzuführen; und dazu gehörte auch, daß mit Betonung die passenden Worte gesprochen, beziehungsweise gelesen wurden. Es wurde nicht erwähnt, daß es nun 1860 Jahre her war, seit Jesus gestorben, was doch sonst bei allen Erinnerungsfeiern hervorgehoben wird. Ich sah keine Trauer und keine Freude, und für mein Gefühl erschien die Feier, in Anbetracht der außerordentlichen Bedeutung der gefeierten Persönlichkeit, in jeder Hinsicht erstaunlich mager. Sie hielt den Vergleich mit weltlichen Jubiläen keineswegs aus.
Plötzlich kam die Reihe an mich. Ich aß das Brot; es schmeckte fad, wie erwartet. Der Wein, von dem ich nur den kleinsten Schluck nahm, war dünn und "säuerlich, offenbar nicht vom bessern. Dann
kam das Schlußgebet, und alle gingen hinaus, nicht bedrückt und nicht erfreut, sondern mit Gesichtern, die sagten: «So, das wär's jetzt.»
Ich ging mit meinem Vater nach Hause, intensiv bewußt, daß ich einen neuen schwarzen Filzhut und einen neuen schwarzen Anzug trug, der sich schon anschickte, zu einem Gehrock zu werden. Es war eine Art verlängerter Jacke, die nach hinten unten sich in zwei Flügelchen erweiterte, und zwischen ihnen war ein Schlitz mit einer Tasche, in die man das Nastuch versorgen konnte, was mir als eine männliche erwachsene Geste vorkam. Ich fühlte mich sozial gehoben und andeutungsweise in die Gemeinschaft der Männer aufgenommen; auch gab es heute ein besonders gutes Mittagessen. Ich würde den ganzen Tag im neuen Gewand herumspazieren. Sonst war ich leer und wußte überhaupt nicht, wie ich mich fühlte.
Nur allmählich, im Laufe der folgenden Tage, dämmerte es mir: es hat sich nichts ereignet, ich bin zwar auf dem Gipfel der religiösen Einführung gewesen, wo ich etwas erwartet hatte - ich wußte nicht was. Es war aber nichts geschehen. Ich wußte, daß Gott mir unerhörte Dinge antun konnte, Dinge von Feuer und von überirdischem Licht, aber diese Feier enthielt, für mich wenigstens, keine Spur von Gott. Es war zwar die Rede von Ihm, aber es waren nur Wörter. Auch bei den anderen hatte ich nichts von fas sungsloser Verzweiflung, von übermächtiger Ergriffenheit und strömender Gnade, die für mich das Wesen Gottes ausmachten, wahrgenommen. Ich hatte nichts von «communio» bemerkt, nichts von Vereinigung, oder Einswerden. Einswerden mit wem? Mit Jesus? Er war doch ein Mensch, der vor 1860 Jahren gestorben war. Warum soll man mit ihm einswerden? Er wird «Gottessohn» genannt, war also anscheinend ein Halbgott, wie die griechischen Heroen - wie kann dann ein gewöhnlicher Mensch mit ihm einswerden? Man nennt das «Christliche Religion», aber das hat ja alles mit Gott, wie ich Ihn erfahren hatte, nichts zu tun. Es ist hingegen ganz klar, daß Jesus, der Mann, mit Gott zu tun hatte;
er war verzweifelt in Gethsemane und am Kreuz, nachdem er die Liebe und Güte Gottes als eines guten Vaters gelehrt hatte. Dann hatte er aber auch die Furchtbarkeit Gottes gesehen. Das konnte ich verstehen. Aber wozu dann diese ärmliche Erinnerungsfeier mit diesem Brot und diesem Wein? Es wurde mir langsam klar, daß das Abendmahl für mich ein fatales Erlebnis gewesen war. Es war
leer ausgegangen, mehr noch, es war ein Verlust. Ich wußte, daß ich nie mehr an dieser Zeremonie teilnehmen konnte. Für mich war sie keine Religion und eine Abwesenheit Gottes. Die Kirche war ein Ort, an den ich nicht mehr gehen durfte. Dort war für mich kein Leben, sondern Tod.
Heftigstes Mitleid mit meinem Vater erfaßte mich. Auf einmal verstand ich die Tragik seines Berufes und seines Lebens. Er rang ja mit einem Tode, den er nicht wahrhaben konnte. Ein Abgrund hatte sich geöffnet zwischen ihm und mir, und ich sah keine Möglichkeit, diese unendliche Kluft zu überbrücken. Ich konnte ihn, meinen lieben und generösen Vater, der mir so vieles überließ und mich nie tyrannisiert hatte, nicht in jene Verzweiflung und in jenen Frevel stürzen, die nötig waren zum Erlebnis der göttlichen Gnade. Nur ein Gott kann das. Ich darf es nicht tun. Es wäre unmenschlich. Gott ist nicht menschlich, dachte ich. Das ist Seine Größe, daß nichts Menschliches an Ihn heranreicht. Er ist gütig und furchtbar, beides, und darum eine große Gefahr, vor der man sich natürlicherweise zu retten versucht. Man klammert sich einseitig an Seine Liebe und Güte, damit man nicht dem Versucher und dem Vernichter verfalle. Das hat Jesus auch bemerkt und darum gelehrt: «Führe uns nicht in Versuchung.»
Meine Einigkeit mit der Kirche und mit der menschlichen Umwelt, wie ich sie kannte, zerbrach mir. Ich hatte, wie mir schien, die größte Niederlage meines Lebens erlitten. Die mir als einzig sinnreicher Zusammenhang mit dem Ganzen erscheinende religiöse Anschauung war zerfallen, d. h. ich konnte am allgemeinen Glauben nicht mehr teilhaben, sondern fand mich verwickelt in ein Unaussprechbares, in «mein Geheimnis», das ich mit niemandem teilen konnte. Es war schrecklich und - das war das Schlimmste vulgär und lächerlich, ein teuflisches Gelächter.
Ich begann zu grübeln: Was muß man von Gott denken? Ich hatte jenen Einfall von Gott und dem Münster nicht selber gemacht, noch viel weniger jenen Traum, der mich, als ich drei Jahre alt war, befallen hatte. Es war ein stärkerer Wille als der meinige, der mir beides aufgenötigt hatte. Hatte die Natur in mir es getan ? Aber die Natur ist ja nichts anderes als der Schöpferwille. Es half auch nichts, den Teufel hiefür anzuklagen, denn er war auch eine Kreatur Gottes. Gott allein war wirklich - ein verheerendes Feuer und eine unbeschreibliche Gnade.
Das Versagen des Abendmahls? War das mein Versagen? Ich hatte mich mit allem Ernst vorbereitet und hoffte auf ein Erlebnis der Gnade und Erleuchtung, aber es war nichts geschehen. Gott blieb abwesend. Um Gottes willen fand ich mich von der Kirche und dem Glauben meines Vaters und aller anderen getrennt, insofern diese die christliche Religion vertraten. Ich war aus der Kirche herausgefallen. Das erfüllte mich mit einer Trauer, die alle die Jahre bis zum Beginn meines Studiums überschatten sollte.
III
Ich begann in der relativ bescheidenen Bibliothek meines Vaters, welche mir damals aber beträchtlich vorkam, Bücher zu suchen, die mir sagen könnten, was man über Gott wußte. Ich fand zunächst nur die traditionellen Auffassungen, aber nicht, was ich suchte, nämlich einen Autor, der selbständig nachdachte, bis ich auf Biedermanns «Christliche Dogmatik» vom Jahre 1869 stieß. Hier war anscheinend ein Mann, der selber nachgedacht und sich eigene Auffassungen zurechtgelegt hatte. Ich erfuhr, daß Religion «ein geistiger Akt der Selbstbeziehung des Menschen zu Gott» sei. Das erregte meinen Widerspruch, denn ich verstand Religion als etwas, was Gott mit mir tut; sie ist ein Akt Seinerseits, dem ich einfach ausgeliefert bin, denn Er ist der Stärkere. Meine «Religion» kannte eben keine menschliche Beziehung zu Gott, denn wie könnte man sich auf etwas beziehen, das man so wenig kannte wie Gott? Darum mußte ich mehr von Gott wissen, um eine Beziehung zu Ihm zu finden.