Endlich hatte ich die Bestätigung gefunden, daß es doch Menschen gab oder gegeben hatte, welche das Böse und dessen weltumspannende Macht sahen und noch mehr, nämlich die geheimnis volle Rolle, welche es in der Erlösung der Menschen aus Dunkelheit und Leiden spielt. Insoweit wurde mir Goethe zum Propheten. Aber ich konnte es ihm nicht verzeihen, daß er Mephisto mit einer bloßen Spielerei, mit einem tour de passe-passe, im Handkehrum erledigte. Das war mir zu theologisch, zu leichtsinnig und unverantwortlich. Ich bedauerte es aufs tiefste, daß auch Goethe der - oh so trügerischen - Verharmlosung des Bösen zum Opfer gefallen war.
Bei meiner Lektüre hatte ich entdeckt, daß Faust eine Art Philosoph gewesen war und, obschon er sich von der Philosophie abgewandt, doch offenbar von ihr eine Offenheit für die Wahrheit gelernt hatte. Ich hatte bis dahin von der Philosophie so gut wie nichts gehört, und eine neue Hoffnung schien mir zu dämmern. -Vielleicht, dachte ich, gab es Philosophen, die über meine Fragen nachgedacht hatten und mir ein Licht aufstecken könnten.
Da in der Bibliothek meines Vaters keine Philosophen vorkamen - sie waren suspekt, weil sie dachten - so mußte ich mich mit Krugs Allgemeinem Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften, 2. Aufl. 1832, begnügen. Ich vertiefte mich sofort in den Artikel über Gott. Zu meinem Mißbehagen begann er mit einer Etymologie des Wortes «Gott», das «unstreitig» von «gut» herkomme und das ens summum oder perfectissimum bezeichne. Man könne, so hieß es weiter, das Dasein Gottes nicht beweisen, auch nicht das Angeborensein der Gottesidee. Letztere könnte, wenn schon nicht actu, so doch potentia von vornherein im Menschen sein. Auf alle Fälle müsse unser «geistiges Vermögen» schon «bis zu einem gewissen Grade entwickelt sein, bevor es fähig ist, eine so erhabene Idee zu erzeugen».
Diese Erklärung erstaunte mich über alle Maßen. Was ist mit diesen «Philosophen» los? fragte ich mich. Sie kennen Gott offenbar nur vom Hörensagen. Da ist es mit den Theologen doch anders; die sind wenigstens sicher, daß Gott existiert, auch wenn sie widersprüchliche Aussagen über Ihn machen. Dieser Krug drückt
sich so gewunden aus, aber man sieht deutlich, daß er eigentlich behaupten möchte, von Gottes Dasein hinlänglich überzeugt zu sein. Warum sagt er es nicht direkt heraus? Warum tut er dergleichen, als ob er wirklich meine, daß man die Idee Gottes «erzeuge» und daß man dazu erst auf einer gewissen Entwicklungsstufe fähig sei? Soviel ich weiß, hatten ja auch die Wilden, die nackt in ihren Wäldern herumstreiften, solche Ideen. Das waren doch keine «Philosophen», die sich hinsetzten, um «eine Idee Gottes zu erzeugen». Auch ich habe doch nie eine «Gottesidee erzeugt». Natürlich kann man Gott nicht beweisen, denn wie könnte z. B. eine Kleidermotte, die australische Wolle frißt, der anderen beweisen, daß es Australien gibt? Gottes Dasein hängt nicht von unseren Beweisen ab. Wie bin ich denn zu meiner Gewißheit Gottes gekommen? Man h atte mir ja in dieser Hinsicht alles mögliche erzählt, und doch konnte ich eigentlich nichts glauben. Nichts hatte mich überzeugt. Von da stammt meine Idee keineswegs. Und es war ja überhaupt keine Idee oder etwas Ausgedachtes. Es war nicht so, als ob man sich etwas vorgestellt und ausgedacht und nachher geglaubt hätte. Z. B. war mir die Geschichte mit dem «her Jesus» immer verdächtig vorgekommen, und ich habe sie nie wirklich geglaubt. Und doch hatte man sie mir mehr aufgedrängt als «Gott», der meistens nur im Hintergrund angedeutet wurde. Warum war mir Gott selbstverständlich? Warum tun diese Philosophen dergleichen, als ob Gott eine Idee sei, eine Art willkürlicher Annahme, die man «erzeugen» kann oder nicht, wo Er doch so offenkundig ist, wie wenn einem ein Ziegel auf den Kopf fällt?
Damals wurde es mir plötzlich klar, daß Gott, für mich wenigstens, eine der allersichersten, unmittelbaren Erfahrungen war. Jene entsetzliche Geschichte mit dem Münster hatte ich doch nicht erfunden. Im Gegenteil, sie wurde mir aufgedrängt, und ich wurde mit größter Grausamkeit gezwungen, sie zu denken. Aber nachher wurde mir unaussprechliche Gnade zuteil.
Ich kam zu dem Schluß, daß mit den Philosophen offenbar etwas nicht stimme, denn sie hatten die kuriose Vorstellung, daß Gott gewissermaßen eine Annahme sei, die man diskutieren könne. Auch fand ich es höchst unbefriedigend, daß ich keine Ansichten über und keine Erklärung für die dunkeln Taten Gottes fand. Diese wären doch, wie mir schien, einer besonderen philosophischen Aufmerksamkeit und Betrachtung würdig. Sie stellen wirklich ein Problem dar, das, wie ich wohl verstand, den Theolo gen schwer fallen mußte. Umso größer war meine Enttäuschung darüber, daß die Philosophen anscheinend nicht einmal davon wußten.
Ich ging daher zum nächsten Artikel über, nämlich zu dem Abschnitt über den Teufel. Wenn man sich diesen, so hieß es, als ursprünglich böse dächte, so würde man sich in handgreifliche Widersprüche verwickeln, d. h. in einen Dualismus geraten. Darum würde man besser daran tun, anzunehmen, daß der Teufel ursprünglich als gutes Wesen geschaffen und erst durch seinen Hochmut verdorben worden sei. Zu meiner großen Genugtuung wies aber der Autor darauf hin, daß diese Behauptung das Böse, das sie erklären wolle, schon voraussetze, nämlich den Hochmut. Im übrigen sei der Ursprung des Bösen «unerklärt und unerklärbar», was für mich hieß: er will, wie die Theologen, nicht darüber nachdenken. Der Artikel über das Böse und dessen Ursprung erwies sich als gleichermaßen unerleuchtend.
Diese hier zusammenhängende Erzählung betrifft Entwicklungen, die, von längeren Zwischenräumen unterbrochen, sich über einige Jahre erstreckten. Sie fanden ausschließlich in meiner Persönlichkeit Nr. 2 statt und waren streng geheim. Ich benutzte die Bibliothek meines Vaters zu diesen Studien ungefragt und nur heimlicherweise. In den Zwischenzeiten las aber Nr. l offen sämtliche Gerstäckerromane, sowie deutsche Übersetzungen der klassischen englischen Romane. Eb enso begann ich deutsche Literatur zu lesen, in erster Linie die Klassiker, insofern sie mir durch die Schule mit ihren unnötig laboriösen Erklärungen von Selbstverständlichkeiten noch nicht verleidet waren. Ich las massenhaft und ohne Plan, Drama, Lyrik, Geschichte, und später naturwissenschaftliche Werke. Die Lektüre war nicht nur interessant, sondern bot mir auch eine wohltuende Zerstreuung. Meine Beschäftigung als Nr. 2 verursachte mir nämlich in zunehmendem Maße Depressionen, da ich auf dem Gebiete der religiösen Fragen nur verschlossene Türen fand, und wo sich solche etwa zufällig öffneten, stieß ich auf Enttäuschungen. Die anderen Menschen schienen wirklich allesamt anderswo zu sein. Ich fühlte mich mit meinen Gewißheiten völlig allein. Ich hätte gern davon mit jemandem gesprochen, aber ich fand nirgends einen Anknüpfungspunkt -im Gegenteil, ich fühlte im anderen ein Befremden, ein Mißtrauen, ein Fürchten, mir entgegenzutreten, das mich der Sprache
beraubte. Das deprimierte mich. Ich wußte nicht, was ich davon halten sollte: warum erlebt niemand Ähnliches wie ich? Warum steht auch in den gelehrten Büchern nichts davon? Bin ich der einzige, der solche Erfahrungen macht? Warum sollte ich der einzige sein? Ich dachte nie, daß ich etwa verrückt wäre, denn Licht und Dunkelheit Gottes erschienen mir als Tatsachen, die mir, obschon sie mein Gefühl beschwerten, verständlich vorkamen.