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Die «Einzigartigkeit», in die ich hineingedrängt wurde, empfand ich als bedrohlich, denn sie bedeutete Isolierung, die mir umso unangenehmer erschien, als ich, mehr als mir lieb war, ungerechtfertigterweise als Sündenbock in Betracht kam. Dazu hatte sich etwas ereignet, das mir einen nachhaltigen Eindruck hinterließ. In den Deutschstunden war ich eher mittelmäßig, da mich der Lehrgegenstand, insbesondere die deutsche Grammatik und Syntax, ganz und gar nicht interessierte. Ich war faul und gelangweilt. Die Aufsatzthemata erschienen mir in der Regel flach oder gar läppisch, und meine Aufsätze waren dementsprechend; entweder flüchtig oder mühsam. Ich schlüpfte mit mittleren Noten durch, was mir ganz recht war. Das gefiel nämlich meiner allgemeinen Tendenz, ja nicht aufzufallen, denn ich wollte von dieser «verdammten Isolierung in Einzigartigkeit», in die ich von verschiedensten Seiten gedrängt wurde, um jeden Preis loskommen. Meine Sympathien galten den Buben aus armen Familien, die, wie ich, aus einem Nichts kamen, und oft auch Schwachbegabten, obschon ich mich durch ihre Dummheit und Ungebildetheit oftmals irritieren ließ. Sie boten mir aber andererseits den sehnlichst erwünschten Vorteil, ahnungslos zu scheinen und mir nichts Besonderes anmerken zu lassen. Meine «Besonderung» begann mir allmählich ein unliebsames, ja etwas unheimliches Gefühl zu verursachen, daß ich widerwärtige, mir unbewußte Eigenschaften besitzen müsse, welche Lehrer und Kameraden von mir abstießen.

In diese Situation fiel wie ein Donnerschlag folgendes Ereignis:

Wir hatten ein Aufsatzthema bekommen, welches mich ausnahms weise interessierte. Infolgedessen setzte ich mich mit Eifer dahinter und produzierte eine, wie mir schien, sorgfältige und wohlgelungene Arbeit. Ich erhoffte dafür wenigstens einen der ersten Plätze; nicht etwa den ersten, denn das wäre auffallend, aber einen der nächsten.

Unser Lehrer besprach nämlich die Aufsätze jeweils in der Reihenfolge ihrer Güte. Als erster kam der Aufsatz des Klassen

ersten. Das war in Ordnung. Dann folgten die Aufsätze der anderen, und immer wartete ich vergebens auf meinen Namen; er wollte nicht kommen. Es ist doch unmöglich, dachte ich, daß mein Aufsatz so schlecht ist, daß er noch unterhalb der schlechten Aufsätze sein könnte. Was ist denn los? Oder bin ich am Ende «hors concours», also in unangenehmster Weise auffallend und isoliert ?

Als alle Aufsätze besprochen waren, machte der Lehrer eine Atempause und sagte dann: «Jetzt habe ich noch einen Aufsatz, -den von Jung. Er ist weitaus der beste, und ich hätte ihm den ersten Platz gegeben. Aber leider ist er ein Betrug. Wo hast du ihn abgeschrieben ? Gesteh die Wahrheit!»

Ich fuhr ebenso entsetzt wie wütend auf und rief: «Ich habe ihn nicht abgeschrieben, sondern ich habe mir im Gegenteil besondere Mühe gegeben, einen guten Aufsatz zu schreiben!» Er aber schrie mich an: «Du lügst! So einen Aufsatz kannst du ja gar nicht schreiben. Das glaubt niemand. Also wo hast du ihn abgeschrieben ?»

Ich beteuerte vergebens meine Unschuld. Der Lehrer blieb unerschütterlich und antwortete: «Das kann ich dir sagen: wenn ich wüßte, wo du ihn abgeschrieben hast, würdest du aus der Schule fliegen.» Und wandte sich ab. Meine Kameraden warfen mir zweifelhafte Blicke zu, und ich sah mit Schrecken, daß sie dachten;

«Aha, das ist es!» Meine Beteuerungen fanden kein Echo.

Ich fühlte, daß ich von jetzt an gebrandmarkt war, und alle Wege, die mich aus der «Besonderung» hätten herausführen können, waren mir abgeschnitten. Zutiefst enttäuscht und gekränkt schwor ich dem Lehrer Rache, und wenn ich eine Gelegenheit gehabt hätte, so hätte damals etwas aus der Zeit des Faustrechtes passieren können. Wie in aller Welt konnte ich beweisen, daß ich den Aufsatz nicht abgeschrieben hatte?

Tagelang wälzte ich diese Geschichte in meinen Gedanken und kam immer wieder zum Schluß, daß ich machtlos und einem blinden und dummen Schicksal ausgeliefert sei, das mich zum Lügner und Betrüger stempelte. Es wurde mir jetzt vieles klar, was ich zuvor nicht verstanden hatte, z. B. wieso ein Lehrer zu meinem Vater, der sich nach me inem Verhalten in der Schule erkundigte, gesagt hatte: «Ach, er ist halt mittelmäßig, gibt sich aber ganz ordentlich Mühe.» Man hielt mich für relativ dumm und oberflächlich. Das ärgerte mich nicht eigentlich. Was mich aber wütend

machte, war, daß man mir einen Betrug zumutete und mich damit moralisch erledigte.

Meine Trauer und Wut drohten maßlos zu werden, aber da geschah etwas, das ich schon mehrere Male zuvor beobachtet hatte:

es wurde plötzlich stille, wie wenn gegen einen lärmerfüllten Raum eine schalldichte Türe geschlossen würde. Es war, wie wenn eine kühle Neugier über mich käme mit der Frage: Was ist denn hier los? Du bist ja aufgeregt! Der Lehrer ist natürlich ein Dummkopf, der deine Art nicht versteht, d. h. ebenso wenig versteht wie du. Er ist darum mißtrauisch wie du. Du mißtraust dir selber und anderen und hältst dich deshalb zu den Einfachen, Naiven urid Überschaubaren. Man fällt dann in Aufregungszustände, wenn man nicht versteht.

Angesichts dieser Betrachtung sine ira et Studio fiel mir die Analogie ein mit jener anderen Überlegung, die mit solcher Nachdrücklichkeit eingesetzt hatte, als ich das Verbotene nicht denken wollte. Damals hatte ich zweifellos noch keinen Unterschied zwischen den Persönlichkeiten Nr. l und Nr. 2 gesehen, sondern hatte auch die Welt von Nr. 2 als meine persönliche Welt in Anspruch genommen; doch bestand immer ein hintergründiges Gefühl, daß noch etwas anderes als ich selber dabei war - etwa wie wenn ein Hauch aus der großen Welt der Gestirne und der endlosen Räume mich berührt hätte, oder wie wenn ein Geist unsichtbar ins Zimmer getreten wäre. Einer, der längst vergangen und doch immerwährend bis in ferne Zukunft im Zeitlosen gegenwärtig wäre. Peripetien dieser Art waren umschwebt vom Halo eines Numen.

Ich hätte mich damals selbstverständlich niemals in dieser Art ausdrücken können, doch lege ich nicht jetzt etwas in meinen damaligen Bewußtseinszustand hinein, sondern ich versuche bloß, mit meinen heutigen Mitteln jene Dämmerwelt zu erhellen.

Es war einige Monate nach dem hier beschriebenen Ereignis, als meine Schulkameraden mir den Übernamen «Erzvater Abraham» anhängten. Nr. l konnte das nicht verstehen und fand es dumm und lächerlich. Im Hintergrund aber fühlte ich, daß es mich irgendwie getroffen hatte. Alle Anspielungen auf meinen Hintergrund waren mir peinlich, denn je mehr ich las und mit der städtischen Welt bekannt wurde, desto mehr wuchs in mir der Eindruck, daß das, was ich jetzt als Wirklichkeit kennenlernte, einer anderen Ordnung der Dinge angehörte als jenes Weltbild, das mit mir auf

dem Lande gewachsen war, zwischen Flüssen und Wäldern, zwischen Tieren und Menschen, in einem kleinen Dorf, über dem der Sonnenschein lag, Winde und Wolken zogen, und das eingehüllt war von dunkler, mit unbestimmbaren Dingen erfüllter Nacht. Es war kein bloßer Ort auf der Landkarte, sondern die Gotteswelt, so verordnet und mit geheimem Sinn erfüllt. Das wußten die Menschen anscheinend nicht, und schon die Tiere hatten irgendwie den Sinn dafür verloren. Das sah man im traurig -verlorenen Blick der Kühe und im resignierten Auge der Pferde, in der Ergebenheit des Hundes, der sich an den Menschen klammerte, und sogar im selbstsicheren Auftreten der Katze, welche Haus und Scheune als Wohnsitz und Jagdgrund erkoren hatte. Wie die Tiere schienen mir auch die Menschen unbewußt zu sein; sie blickten auf den Boden oder in die Bäume hinauf, um zu sehen, was man und zu welchem Zwecke man es gebrauchen könnte; wie Tiere scharten, paarten und stritten sie sich und sahen nicht, daß sie im Kosmos wohnten, in der Gotteswelt, in der' Ewigkeit, wo alles geboren wird, und alles schon gestorben ist.