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Infolgedessen wurde es mir immer ungemütlicher, wenn ich mich mit meinem Onkel und seiner Familie zu Tisch setzte. Für mein habituell schlechtes Gewissen wurden die Donnerstage zu schwarzen Tagen. In dieser Welt sozialer und spiritueller Sicherheit und Gelassenheit fühlte ich mich immer weniger Zuhause, obschon ich nach den Tropfen geistiger Anregung dürstete, die dort gelegentlich fielen. Ich kam mir unehrlich und verworfen vor. Ich mußte mir gestehen: Ja, du bist ein Betrüger, du lügst und täuschest die Menschen, die dir doch wohlwollen. Sie können ja nichts dafür, daß sie in einer Welt der sozialen und geistigen Sicherheit wohnen, daß sie nichts wissen von Armut, daß ihre Religion auch zugleich ihr bezahlter Beruf ist und daß sie sich offenbar keine Gedanken darüber machen, wie Gott selber einen Menschen aus seiner eigenen

geistigen Weltordnung herausreißen und zur Blasphemie verdammen kann. Ich habe keine Möglichkeit, es ihnen zu erklären. Ich muß also dieses Odium auf mich nehmen und es ertragen lernen. Das war mir allerdings bis jetzt nur schlecht gelungen.

Diese Zuspitzung des moralischen Konfliktes in mir brachte es mit sich, daß mir Nr. 2 zunehmend zweifelhafter und unangenehmer wurde, eine Tatsache, die ich mir nicht mehr länger verheimlichen konnte. Ich versuchte, die Persönlichkeit Nr. 2 auszulöschen, aber es wollte mir nicht gelingen. Ich konnte sie zwar in der Schule und in der Gegenwart meiner Kameraden vergessen, auch entschwand sie mir beim Studium der Naturwissenschaften, aber sobald ich allein zu Hause oder in der Natur war, kamen Schopenhauer und Kant wieder mächtig zurück und mit ihnen die große «Gotteswelt». Meine naturwissenschaftlichen Kenntnisse waren auch darin enthalten und erfüllten das große Gemälde mit Farben und Gestalten. Nr. l aber und seine Bekümmernisse um die Berufswahl sanken als eine kleine Episode in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts unter den Horizont. Wenn ich von meinem Ausflug in die Jahrhunderte wieder zurückkam, so geschah dies mit einer Art Katzenjammer. Ich, d. h. Nr. l, lebte jetzt und hier und hatte sich über kurz oder lang eine definitive Vorstellung davon zu machen, welchen Beruf er ergreifen wollte.

Mein Vater sprach mehrere Male ernstlich mit mir: ich könne irgendein Studium wählen, aber, wenn es auf seinen Rat ankäme, dann lieber nicht Theologie. «Du kannst alles werden, nur kein Theologe!» Es bestand damals bereits etwas wie eine stillschweigende Übereinkunft zwischen uns, daß gewisse Dinge kommentarlos gesagt und getan werden konnten. Er hatte mich z. B. nie darüber zur Rede gestellt, warum ich die Kirche so oft wie möglich schwänzte und nie mehr am Abendmahl teilnahm. Es wurde mir leichter, je ferner ich der Kirche rückte. Was ich vermißte, war einzig die Orgel und der Choral, keineswegs aber die «kirchliche Gemeinschaft». Darunter konnte ich mir überhaupt nichts vorstellen; denn die Leute, die aus Gewohnheit regelmäßig in die Kirche gingen, schienen mir untereinander noch weniger «Gemeinschaft» zu haben als die «Weltlichen». Diese letzteren waren allerdings weniger tugendhaft, dafür aber viel nettere Leute mit natürlichen Gefühlen, umgänglicher und fröhlicher, wärmer und herzlicher.

Ich konnte meinen Vater beruhigen, daß es mich keinesfalls gelüstete, Theologe zu werden. Ich schwankte unentschieden zwi

sehen Natur- und Geisteswissenschaft. Beide zogen mich mächtig an. Es fing mir aber an klar zu werden, daß Nr. 2 kein pied-ä-terre hatte. In ihm war ich dem Hier und Jetzt enthoben; in ihm fühlte ich mich als ein Auge im tausendäugigen Weltall, aber außerstande, auf der Erde auch nur einen Kieselstein zu bewegen. Dagegen empörte sich Nr. class="underline" er wollte tun und bewirken, fand sich aber in einem vorderhand unlösbaren Zwiespalt. Ich mußte offenbar abwarten und zusehen, was geschehen würde. Wenn mich damals jemand fragte, was ich werden wolle, so pflegte ich zu sagen: Philologe, worunter ich mir heimlich assyrische und ägyptische Archäologie vorstellte. In Wirklichkeit betrieb ich aber naturwissenschaftliche und philosophische Studien in meinen Mußestunden und besonders in den Ferien, die ich mit Mutter und Schwester zu Hause verbrachte. - Die Zeiten, wo ich zur Mutter lief und lamentierte: «Es ist langweilig, ich weiß nicht, was ich tun soll!» waren längst vorüber. Die Ferien waren jeweils die große Zeit, wo ich mich allein unterhalten konnte. Überdies war dann, wenigstens im Sommer, mein Vater fort, da er seine Ferien fast regelmäßig in Sachsein verbrachte.

Nur ein einziges Mal trat das Ereignis ein, daß auch ich eine Ferienreise machte. Ich war vierzehn Jahre alt, als unser Arzt mir einen Kuraufenthalt im Entlebuch verschrieb, um meinem damaligen schwankenden Gesundheitszustand und meinem launischen Appetit aufzuhelfen. Zum ersten Mal war ich allein unter fremden erwachsenen Leuten, einquartiert im Hause des katholischen Pfarrers. Das bedeutete für mich ein unheimliches und zugleich faszinierendes Abenteuer. Den Pfarrer selber bekam ich kaum zu Gesicht, und seine Haushälterin war eine zwar etwas kurz angebundene, aber im übrigen keineswegs beunruhigende Persönlichkeit. Es ereigneten sich keine bedrohlichen Dinge. Ich war unter der Obhut eines alten Landarztes, der eine Art Hotel-Sanatorium für Rekonvaleszenten aller Art unterhielt. Es war eine in jeder Hinsicht gemischte Gesellschaft: bäurische Leute, kleine Beamte und Kaufleute und einige wenige gebildete Leute von Basel, darunter ein Dr. phil., ein Chemiker. Mein Vater war auch ein Dr. phil., aber ein Philolog und Linguist. Der Chemiker aber war für mich ein höchst interessantes Novum, ein Naturwissenschaftler, einer, der vielleicht sogar die Geheimnisse der Steine verstand! Er war ein noch junger Mann, der mich Croquetspielen lehrte, aber nichts

von seinem (vermutlich ungeheuren) Wissen verlauten ließ; ich war zu scheu, zu unbeholfen und viel zu unwissend, um ihn zu fragen. Er wurde aber von mir verehrt als der erste leibhaftige Kenner der Naturgeheimnisse (oder wenigstens eines Teiles derselben), den meine Augen erblickten. Er saß an der gleichen Table d'hote, aß dieselben Speisen wie ich und wechselte sogar gelegentlich einige Worte mit mir. Ich fühlte mich in die höhere Sphäre der Erwachsenen entrückt. Daß ich auch an den Ausflügen der Pensionäre teilnehmen durfte, bestätigte meine Rangerhöhung. Bei ein er dieser Gelegenheiten besuchten wir eine Distillerie, wo wir zu einer Kostprobe eingeladen wurden. In wörtlicher Erfüllung des klassischen Wortes: Nun_aber_naht_sich_das_Malör, Denn_dies_Getränke_ist_Likör........ ... fand ich die verschiedenen Gläschen so begeisternd, daß ich mich in einen mir ganz neuen und unerwarteten Bewußtseinszustand versetzt fühlte: es gab kein Innen und Außen, kein Ich und die Anderen, kein Nr. l und Nr. 2, keine Vorsicht und Ängstlichkeit mehr. Die Erde und der Himmel, die Welt und alles, was darin «kreucht und fleucht», rotiert, aufsteigt oder herunterfällt, war einsgeworden. Ich war schamerfüllt und triumphbeglückt betrunken. Ich war wie in einem Meer seliger Nachdenklichkeit ertrunken und hielt mich infolge heftiger Meeresbewegung mit Augen, Händen und Füßen an allen soliden Gegenständen fest, um mein Gleichgewicht auf wogender Straße und zwischen sich neigenden Häusern und Bäumen zu wahren. Großartig, dachte ich, nur leider gerade etwas zu viel. - Das Erlebnis fand zwar ein etwas jammervolles Ende, blieb aber eine Entdeckung und Ahnung von Schönheit und Sinn, die ich nur infolge meiner Dummheit leider verdorben hatte.