Am Ende meines Ferienaufenthaltes holte mich mein Vater ab und fuhr mit mir nach Luzern, wo wir - oh Glück - ein Dampfschiff bestiegen. Ich hatte noch nie etwas derartiges gesehen. Ich konnte mich an der Aktion der Dampfmaschine nicht satt sehen, und plötzlich hieß es, man sei in Vitznau. Über der Ortschaft stand ein hoher Berg, und mein Vater erklärte mir, das sei nun die Rigi, und es führe eine Eisenbahn, nämlich eine Zahnradbahn, hinauf. Wir gingen zu einem kleinen Stationsgebäude, und da stand die seltsamste Lokomotive der Welt mit aufrechtem, aber schiefgestelltem Dampfkessel. Im Wagen waren sogar die Sitze schief. Mein
Vater drückte mir ein Billett in die Hand und sagte: «Du kannst jetzt allein auf Rigi-Kulm fahren. Ich bleibe hier, denn für zwei kostet es zu viel. Paß auf und fall nirgends hinunter.»
Ich war sprachlos vor Glück. Dieser gewaltige Berg, so hoch, wie ich nie zuvor etwas gesehen hatte, und ganz nahe bei den Feuerbergen meiner so längst vergangenen Vorzeit! Ich war in der Tat schon fast ein Mann. Ich hatte mir für diese Reise einen Bambusspazierstock gekauft und eine englische Jockeymütze, wie es sich für einen Weltreisenden gebührt, und jetzt - ich auf diesen ungeheuren Berg! Ich wußte nicht mehr, was größer war, ich oder der Berg. Mit gewaltigem Gepuste rüttelte mich die Wunderlokomotive in schwindelnde Höhen, wo immer neue Tiefen und Fernen sich meinem Blicke auftaten, und zuletzt stand ich auf dem Gipfel in einer neuen, mir fremden dünnen Luft, in einer unvorstellbaren Weite: Ja, dachte ich, das ist sie, die Welt, meine Welt, die eigentliche Welt, das Geheimnis, wo es keine Lehrer, keine Schule, keine unbeantwortbaren Fragen gibt, wo man ist, ohne zu fragen. - Ich hielt mich sorgsam an die Wege, denn es gab ungeheure Abstürze. Es war feierlich, man mußte höflich und still sein, denn man war in der Gotteswelt. Hier war sie leibhaftig. Das war ein Geschenk, das kostbarste und beste, das mein Vater mir je gegeben hat.
Der Eindruck war so tief, daß meine Erinnerung an das, was danach geschah, völlig ausgelöscht wurde. Aber auch Nr. l war bei dieser Reise auf seine Rechnung gekommen, und seine Eindrücke blieben während des größten Teiles meines Lebens immer lebendig. Ich sah mich als erwachsen und unabhängig, mit steifem, schwarzem Hut und einem kostbaren Spazierstock, auf der Terrasse vor einem der überwältigenden, ungeheuer vornehmen Hotelpaläste am Quai in Luzern oder in den wunderschönen Gärten von Vitznau, an einem weißgedeckten Tischchen unter einer von Morgensonne beglänzten Marquise sitzen, meinen Kaffee trinkend und Croissants mit goldgelber Butter und verschiedenen Konfitüren essend, Ausflugspläne für den ganzen langen Sommertag erwägend. Nach dem Kaffee wandle ich gelassen, ohne Aufregung, gemächlichen Schrittes zu einem Dampfschiff, das gotthardwärts an den Fuß jener Riesenberge führt, die oben mit den schimmernden Gletschern bedeckt sind.
Jahrzehntelang stellte sich diese Phantasie ein, wenn ich von vieler Arbeit ermüdet einen Ruhepunkt suchte. In Wirklichkeit
habe ich mir diese Herrlichkeit zwar immer wieder versprochen, aber mein Versprechen nie eingehalten.
Diese meine erste bewußte Reise war ein oder zwei Jahre später gefolgt von einer zweiten. Ich durfte meinen Vater, der seine Ferien in Sachsein verbrachte, besuchen. Ich erfuhr von ihm die eindrucksvolle Neuigkeit, daß er sich mit dem dortigen katholischen Geistlichen befreundet habe. Das erschien mir als ein außerordentlich kühnes Unterfangen, und ich bewunderte im stillen den Mut meines Vaters. Ich stattete dort dem Flüeli, der Einsiedelei und den Reliquien des damals seligen Bruder Klaus einen Besuch ab. Ich wunderte mich, woher die Katholiken wußten, daß Bruder Klaus selig sei. Ob er vielleicht noch umgeht und es den Leuten gesagt hat ? Ich war vom genius loci stark beeindruckt und konnte mir die Möglichkeit eines derart gottgeweihten Lebens nicht nur vorstellen, sondern sie auch begreifen - mit einem innerlichen Schauer und einer Frage, auf die ich keine Antwort wußte: wie konnten seine Frau und seine Kinder es ertragen, daß der Mann und Vater ein Heiliger war, wo es doch gerade gewisse Fehler und Unzulänglichkeiten waren, die mir meinen Vater besonders liebenswert machten? Ich dachte: Ja, wie könnte man mit einem Heiligen zusammenleben? Das war offenbar auch für ihn nicht möglich, und er mußte darum ein Einsiedler werden. Immerhin war es nicht allzuweit von seiner Zelle zu seinem Haus. Ich fand diese Idee auch nicht so übel, die Familie in dem einen Haus zu wissen, und ich würde in einem anderen, etwas entfernten Pavillon eine Menge Bücher und einen Schreibtisch und ein offenes Feuer haben, darin Kastanien rösten und darüber meinen Suppentopf auf einem Dreibein aufsetzen. Als heiliger Einsiedler müßte ich auch nicht mehr zur Kirche gehen, sondern ich hätte meine Privatkapelle.
Vom Flüeli ging ich noch ein Stück Weges aufwärts, in meinen Gedanken wie in einem Traum verloren, und wandte mich eben zum Abstieg, als von links her die schlanke Gestalt eines jungen Mädchens auftauchte. Sie trug die Landestracht, hatte ein hübsches Gesicht und grüßte mit freundlichen blauen Augen. Wie selbstverständlich gingen wir zusammen zu Tal. Sie war ungefähr gleich alt wie ich. Da ich keine anderen Mädchen kannte als meine Cousinen, so fühlte ich mich in einiger Verlegenheit, wie ich zu ihr reden sollte. Ich begann daher zögernd zu erklären, ich sei hier für ein paar Tage in den Ferien. Ich sei in Basel auf dem Gymnasium
und später wolle ich studieren. Während ich sprach, beschlich mich ein sonderbares Gefühl von «Schicksalhaftigkeit». - Sie ist, dachte ich mir, gerade in diesem Moment aufgetaucht; sie geht so natürlich neben mir her, wie wenn wir zusammengehörten. - Ich schaute sie seitwärts an und sah einen Ausdruck in ihrem Gesicht, etwas wie Scheu und wie Bewunderung, etwas, das mich verlegen machte und mich irgendwie traf. - Sollte es möglich sein, daß hier ein Schicksal droht? Ist es bloß zufällig, daß ich sie antreffe? Ein Bauernmädchen - sollte es möglich sein? Sie ist katholisch, aber vielleicht ist ihr Pfarrer derselb e, mit dem sich mein Vater befreundet hat? Sie weiß ja gar nicht, wer ich bin. Ich könnte doch nicht von Schopenhauer und der Verneinung des Willens mit ihr reden? Sie scheint ja nicht irgendwie unheimlich zu sein. Vielleicht gehört ihr Pfarrer nicht zu den Jesuiten, diesen gefährlichen Schwarzröcken. Ich kann ihr auch nicht sagen, daß mein Vater ein reformierter Pfarrer ist. Das könnte sie erschrecken oder beleidigen. Und vollends die Philosophie und der Teufel, der bedeutender ist als Faust und den Goethe so schnöde versimpelt hat - das ist ausgeschlossen. Sie ist im fernen Unschuldslande, und ich bin in die Wirklichkeit, in die Pracht und Grausamkeit der Schöpfung gefallen. Wie könnte sie das ertragen ? Eine undurchdringliche Mauer steht zwischen uns. Es gibt keine und darf keine Verwandtschaft geben.
Ich fiel mit Trauer im Herzen in mich selbst zurück und gab dem Gespräch eine andere Wendung. Ob sie nach Sachsein hinunter gehe? Das Wetter sei schön, ebenso die Aussicht usw.
Dieses Zusammentreffen war von außen betrachtet völlig bedeutungslos. Aber von innen her hatte es ein so großes Gewicht, daß es mich nicht nur für Tage beschäftigte, sondern für immer und unverlierbar wie ein Monument am Wege in meinem Gedächtnis stehen blieb. Ich war damals noch in jenem kindlichen Zustand, in welchem das Leben aus unzusammenhängenden Einzelerlebnissen besteht. Denn wer vermöchte den Schicksalsfaden aufzudecken, der vom Hl. Klaus zu dem hübschen Mädchen führt?