Jene Zeit war erfüllt vom Widerstreit der Gedanken. Schopenhauer und das Christentum einerseits wollten sich nicht reimen, und andererseits wollte sich Nr. l vom Druck oder der Melancholie von Nr. 2 befreien. Nicht Nr. 2 war deprimiert, sondern Nr. l, wenn er sich an Nr. 2 erinnerte. Es geschah nun eben zu dieser
Zeit, daß aus dem Zusammenprall der Gegensätze die erste systematische Phantasie meines Lebens geboren wurde. Sie trat stückweise in Erscheinung und nahm ihren Ursprung wahrscheinlich, so weit ich mich richtig erinnere, aus einem Erlebnis, das mich aufs tiefste erregt hatte.
Es war an einem Tage, da ein Nordweststurm auf dem Rhein Schaumwellen aufwarf. Mein Schulweg führte den Fluß entlang. Da sah ich plötzlich, wie von Norden her ein Schiff mit einem großen Rahsegel den Rhein vor dem Sturm hinauffuhr, ein für mich völlig neues Erlebnis: Ein Segelschiff auf dem Rhein! Das beflügelte meine Phantasie. Wenn statt des rasch fließenden Stromes ein See da wäre, der das ganze Elsaß bedeckte! Dann hätten wir Segelschiffe und große Dampfer. Dann wäre Basel eine Hafenstadt. Dann wären wir so gut wie am Meer! Dann wäre alles anders, und wir würden leben wie in einer anderen Zeit und Welt. Dann gäbe es auch kein Gymnasium, keinen langen Schulweg, und ich wäre erwachsen und würde mir mein Leben selber einrichten. Da wäre ein Felsenhügel im See, durch eine schmale Landzunge mit dem Festland verbunden, unterbrochen durch einen breiten Kanal, über den eine Holzbrücke führt zu einem mit Türmen flankierten Tor, das sich in ein kleines, auf den Abhängen gebautes, mittelalterliches Städtchen öffnet. Auf dem Felsen steht eine wohlbewehrte Burg mit einem hohen Donjon, einem Luginsland. Das war mein Haus. Es gab darin keine Säle oder irgendwelche Pracht. Die Räume waren einfach getäfelt und eher klein. Es gab eine ungemein attraktive Bibliothek, wo man alles Wissenswerte finden konnte. Es gab auch eine Waffensammlung, und die Bastionen waren bestückt mit gewichtigen Rohren. Auch lag eine Besatzung von fünfzig wehrhaften Gesellen in der kleinen Burg. Das Städtchen hatte einige hundert Einwohner und war regiert durch einen Bürgermeister und einen Rat alter Männer. Ich war der selten erscheinende Schiedsrichter, juge de paix und Berater. Das Städtchen hatte auf der Landseite einen Hafen, in welchem mein Zweimaster lag, mit etlichen kleinen Stücken bewehrt.
Der nervus rerum und zugleich die raison d'etre dieses ganzen Arrangements war das Geheimnis des Donjon, um das nur ich wußte. Der Gedanke hatte mich getroffen wie ein Schock. Im Turm nämlich befand sich, von der Zinne bis ins Kellergewölbe reichend, eine kupferne Säule, oder ein dickes Drahtseil, das sich oben in feinste Ästchen auffaserte, wie eine Baumkrone oder
besser noch - wie ein Wurzelstock mit allen seinen kleinsten Würzelchen, die in die Luft ragten. Sie zogen daraus ein gewisses unvorstellbares Etwas, das durch die armdicke Kupfersäule in den Keller geleitet wurde. Dort befand sich eine unvorstellbare Apparatur, eine Art Laboratorium, in welchem ich Gold fabrizierte und zwar aus der geheimen Substanz, welche die Kupferwurzeln aus der Luft zogen. Es war wirklich ein Arcanum, von dessen Natur ich mir keine Vorstellung machte oder machen konnte. Auch bestand keine Imagination über die Natur des Umwandlungsprozesses. Über das, was in diesem Laboratorium geschah, ging meine Phantasie taktvoll, oder besser, mit einer gewissen Scheu hinweg. Da war etwas wie ein inneres Verbot: man sollte nicht genauer hinsehen, auch nicht auf das, was aus der Luft ausgezogen wurde. Es herrschte darum eine stillschweigende Verlegenheit, wie Goethe von den «Müttern» sagt: «Von ihnen sprechen ist Verlegenheit.»
«Geist» war mir natürlich ein Ineffabile, aber im Hintergrund unterschied er sich nicht wesentlich von sehr verdünnter Luft. Was die Wurzeln sogen und dem Stamm übermittelten, war eine Art geistiger Essenz, die unten im Keller als fertige Goldmünzen sichtbar wurde. Das war beileibe kein bloßer Zaubertrick, sondern ein ehrwürdiges und lebenswichtiges Geheimnis der Natur, das mir, ich weiß nicht wie, zuteil geworden war und das ich nicht nur vor dem Rate der Alten geheimhalten, sondern auch noch gewissermaßen mir selber verheimlichen mußte.
Mein langer und langweiliger Schulweg fing an, sich in willkommener Weise zu verkürzen. Kaum war ich aus dem Schulhaus heraus, so war ich schon in der Burg, wo Umbauten vorgenommen, Ratssitzungen abgehalten, Missetäter verurteilt, Streitfälle geschlichtet und Kanonen abgefeuert wurden. Das Segelschiff wurde klar gemacht, Segel gesetzt, das Schiff mit einer lauen Brise sorgsam aus dem Hafen gesteuert, um dann, hinter dem Felsen hervorkommend, gegen einen steifen Nordwest aufzukreuzen. Und schon war ich zu Hause, wie wenn nur wenige Minuten vergangen wären. Ich trat dann aus meiner Phantasie heraus, wie aus einem Wagen, der mich mühelos nach Hause gefahren hatte. Diese höchst angenehme Beschäftigung dauerte einige Monate, bis sie mir verleidet war. Dann fand ich die Phantasie dumm und lächerlich. Anstatt zu träumen, begann ich aus kleinen Steinen mit Lehm als Mörtel Burgen und kunstvoll befestigte Plätze zu bauen, wozu mir die Festung Hüningen, die damals noch mit allen Einzelheiten erhalten war, als Modell diente. Im Anschluß daran studierte ich alle mir erreichbaren Vaubanschen Fortifikationspläne und war bald mit allen technischen Namen auf dem laufenden. Von Vauban aus vertiefte ich mich auch in moderne Befestigungsmethoden jeglicher Art und versuchte sie mit meinen beschränkten Mitteln kunstvoll nachzubauen. Diese Präokkupation füllte meine Mußestunden für mehr als zwei Jahre aus, in welcher Zeit sich meine Neigung zu Naturstudien und konkreten Dingen auf Kosten von Nr. 2 verstärkte.
Solange ich von den wirklichen Dingen so wenig wußte, hatte es, wie ich dachte, auch gar keinen Zweck, über sie nachzudenken. Phantasieren kann jedermann, aber wirklich wissen ist eine andere Sache. Ich durfte mir ein naturwissenschaftliches Journal abonnieren, das ich mit leidenschaftlichem Interesse las. Ich suchte und sammelte unsere Jurafossilien und alle erreichbaren Mineralien, ebenso Insekten, Mammut- und Menschenknochen, erstere aus Kiesgruben der Rheinebene, letztere aus einem Massengrab bei Hüningen aus dem Jahre 1811. Die Pflanzen interessierten mich zwar, aber nicht wissenschaftlich. Aus einem mir unverständlichen Grunde sollten sie nicht abgerissen und getrocknet werden. Sie waren lebende Wesen, die nur wachsend und blühend einen Sinn hatten, einen verborgenen, geheimnisvollen Sinn, einen Gottesgedanken. Sie waren mit Scheu zu betrachten, man mußte sich über sie philosophisch wundern. Es war zwar interessant, was die Biologie über sie zu sagen hatte, aber das war nicht das Wesentliche. Was dieses Wesentliche war, vermochte ich mir nicht klar zu machen. Wie verhielten sie sich z. B. zum christlichen Glauben oder zur Verneinung des Willens? Das war mir unerfindlich. Sie gehörten offensichtlich zum göttlichen Unschuldszustand, den man besser nicht stören sollte. Im Gegensatz dazu waren die Insekten denaturierte Pflanzen, Blumen und Früchte, die es sich herausgenommen hatten, auf einer seltsamen Art von Beinen oder Stelzen herumzukriechen und mit Flügeln, wie mit Blumen- oder Kelchblättern, herumzufliegen und sich als Pflanzenschädlinge zu betätigen. Um dieser gesetzeswidrigen Tätigkeit willen wurden sie zu Massenhin richtungen verurteilt, von welchen Straf expeditionen besonders Maikäfer und Raupen betroffen wurden. Das «Mitleid mit allen Wesen» beschränkte sich ausschließlich auf Warmblüter. Einzig Frösche und Kröten waren wegen ihrer Menschenähnlichkeit von den Kaltblütern ausgenommen.
Studienjahre
Trotz meiner zunehmenden naturwissenschaftlichen Interessen kehrte ich immer wieder von Zeit zu Zeit zu meinen philosophischen Büchern zurück. Die Frage meiner Berufswahl kam beängstigend näher. Ich hoffte zwar sehnlichst auf das Ende der Schulzeit. Dann würde ich studieren, natürlich Naturwissenschaften. Dann würde ich etwas Wirkliches wissen. Kaum hatte ich mir dies gewissermaßen laut versprochen, so kam auch schon der Zweifeclass="underline" sollte es nicht Geschichte und Philosophie lauten? - Dann wieder interessierte ich mich intensiv für das Ägyptische und Babylonische und wollte am liebsten Archäologe werden. Aber ich hatte kein Geld, um woanders als in Basel zu studieren, und dort gab es keinen Lehrer für diese Gebiete. So war es mit meinem Plan sehr bald zu Ende. Lange Zeit konnte ich mich nicht entscheiden und schob meinen Entschluß immer wieder hinaus. Mein Vater war darüber sehr bekümmert. Er sagte einmaclass="underline" «Der Bub interessiert sich für alles Mögliche. Aber er weiß nicht, was er will.» Ich konnte ihm nur recht geben. Als das Maturitätsexamen herannahte und wir uns entscheiden mußten, in welche Fakultät wir uns einschreiben wollten, sagte ich kurzerhand: stud. phil. II, also Naturwissenschaften, ließ aber meine Kameraden in Zweifel, ob ich wirklich stud. phil. I oder II meinte.