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Dieser anscheinend rasche Entschluß hatte aber seine Vorgeschichte. Einige Wochen zuvor, mitten in der Zeit, als sich Nr. l und Nr. 2 um die Entscheidung stritten, hatte ich zwei Träume. Im ersten Traum ging ich in einen dunkeln Wald, der sich längs des Rheins hinzog. Ich kam an einen kleinen Hügel, einen Grabtumulus, und begann zu graben. Nach einer Weile stieß ich zu meinem Erstaunen auf Knochen von prähistorischen Tieren. Das interessierte mich leidenschaftlich, und in dem Augenblick wußte ich: Ich muß die Natur, die Welt, in der wir leben, und die Dinge, die uns umgeben, kennenlernen.

Dann kam ein zweiter Traum, in welchem ich mich wieder in einem Wald befand. Er war von Wasserläufen durchzogen, und an der dunkelsten Stelle sah ich, umgeben von dichtem Gestrüpp,

einen kreisrunden Weiher. Im Wasser lag, halb eingetaucht, das wunderseltsamste Gebilde: ein rundes Tier, in vielen Farben schillernd, das aus vielen kleinen Zellen bestand, oder aus Organen, die wie Tentakel geformt waren. Eine Riesenradiolarie von etwa einem Meter Durchmesser. Daß dieses herrliche Gebilde ungestört an der verborgenen Stelle im klaren, tiefen Wasser lag, erschien mir unbeschreiblich wunderbar. Es erweckte in mir die höchste Wißbegier, so daß ich mit klopfendem Herzen erwachte. Diese beiden Träume bestimmten mich mit Übermacht für die Naturwissenschaft und beseitigten jeglichen Zweifel in dieser Hinsicht.

Es wurde mir bei dieser Gelegenheit klar, daß ich in der Zeit und an einem bestimmten Ort lebte, wo man sein Leben verdienen mußte. Zu diesem Zwecke mußte man dieses oder jenes sein, und ich war tief davon beeindruckt, daß alle meine Kameraden von dieser Notwendigkeit erfüllt waren und überhaupt nicht darüber hinaus dachten. Ich kam mir selber merkwürdig vor. Warum konnte ich mich nicht entscheiden und endgültig festlegen? Selbst der mühsame D., der mir von meinem Deutschlehrer als Vorbild des Fleißes und der Gewissenhaftigkeit vorgehalten worden war, war sicher, daß er Theologie studieren würde. Ich sah ein, daß ich mich dazu bequemen müßte, mich einmal hinzusetzen und die Sache auszudenken. Als Zoologe z. B. könnte ich nur Schulmeister werden oder bestenfalls Angestellter an einem zoologischen Garten. Das war keine Aussicht, auch bei bescheidenen Ansprüchen. Vor dem Schullehrerdasein hätte ich allerdings letzteres vorgezogen.

In dieser Sackgasse kam mir der erleuchtende Gedanke, ich könnte Medizin studieren. Merkwürdigerweise war mir das früher nie eingefallen, obwohl mein Großvater väterlicherseits, von dem ich soviel gehört hatte, auch Arzt gewesen war. Gerade deshalb hatte ich sogar gewisse Widerstände gegen diesen Beruf. «Nur nicht nachmachen» war meine Devise. Jetzt aber sagte ich mir, daß das Medizinstudium wenigstens mit naturwissenschaftlichen Fächern beginne. Insofern käme ich also auf meine Re chnung. Überdies war das Gebiet der Medizin so mannigfaltig, daß man immer noch eine Möglichkeit hatte, sich in irgendeiner wissenschaftlichen Richtung zu betätigen. «Wissenschaft» stand für mich fest. Die Frage war nur wie? Ich mußte mir mein Leben verdienen, und da ich kein Geld hatte, konnte ich keine fremde Universität besuchen, um mich auf eine wissenschaftliche Laufbahn vorzubereiten. Ich könnte bestenfalls zu einem Dilettanten der Wissenschaft wer

den. Da ich zudem für viele meiner Kameraden und auch für maßgebende Leute (lies Lehrer) ein unsympathisches Wesen besaß, das Mißtrauen und vorwurfsvolle Meinungen erzeugte, so bestand auch keine Hoffnung, einen Gönner zu finden, der meinen Wunsch hätte unterstützen können. Ich entschloß mich daher schließlich zum Studium der Medizin mit dem nicht gerade angenehmen Gefühl, daß es nicht gut sei, sein Leben mit einem derartigen Kompromiß zu beginnen. Immerhin fühlte ich mich durch diesen unwiderruflichen Entschluß beträchtlich erleichtert.

Jetzt erhob sich aber die peinliche Frage: Woher kommt das zum Studium nötige Geld? Mein Vater konnte es nur zum Teil aufbringen. Er bewarb sich aber um ein Stipendium bei der Universität, das ich zu meiner Beschämung dann auch erhielt. Ich schämte mich weniger wegen der Tatsache, daß unsere Armut damit vor aller Welt bekräftigt wurde, als vielmehr wegen meiner heimlichen Überzeugung, daß sozusagen alle Leute «oben», d. h. die Maßgebenden, mir übel gesinnt seien. Ich hätte diese Güte von «oben» nie erwartet. Offenbar hatte ich profitiert von dem günstigen Prestige meines Vaters, der ein guter und unkomplizierter Mensch war. Ich fühlte mich von ihm aufs äußerste verschieden. Ich hatte eigentlich zwei voneinander abweichende Auffassungen über mich. Nr. l sah meine Persönlichkeit als einen wenig sympathischen und mäßig begabten jungen Mann mit ehrgeizigen Ansprüchen, unkontrolliertem Temperament und zweifelhaften Manieren, bald naiv begeistert, bald kindisch enttäuscht, im innersten Wesen als weitabgewandten Finsterling. Nr. 2 betrachtete Nr. l als eine schwierige und undankbare moralische Aufgabe, als eine Art durchzupaukendes Pensum, erschwert durch eine Reihe von Defekten, wie sporadische Faulheit, Mutlosigkeit, Depression, inepte Begeisterung für Ideen und Dinge, die niemand schätzt, eingebildete Freundschaften, Beschränktheit, Vorurteil, Dummheit (Mathematik!), Mangel an Verständnis für andere Menschen, Unklarheit und Verworrenheit in weltanschaulicher Beziehung, weder Christ noch sonst etwas. Nr. 2 war überhaupt kein Charakter, sondern eine vita peracta, geboren, lebend, gestorben, alles in einem, eine Totalschau der menschlichen Natur selber; sich selber zwar mitleidlos klar, aber unfähig und wenig gewillt, wenn schon sehnsuchtsvoll, sich selber durch das dichte und dunkle Medium von Nr. l auszusprechen. Nr. l war, wenn Nr. 2 vorherrschte, in diesem enthalten und aufgehoben, wie umgekehrt Nr. l den anderen als ein finsteres Innenreich betrachtete. Nr. 2 empfand den möglichen Ausdruck seiner selbst als einen Stein, der vom Rande der Welt geworfen wurde und in nächtlicher Unendlichkeit lautlos versank. In ihm (Nr. 2) selber aber herrschte Licht wie in den weiten Räumen eines königlichen Palastes, dessen hohe Fenster sich auf eine sonnendurchflutete Landschaft öffneten. Hier herrschte Sinn und historische Kontinuität in strengstem Gegensatz zur zusammenhanglosen Zufälligkeit des Nr. l-Lebens, das in seiner unmittelbaren Umgebung eigentlich keine Anknüpfungspunkte fand. Nr. 2 dagegen fühlte sich in heimlicher Übereinstimmung mit dem Mittelalter, personifiziert in Faust, dem Vermächtnis verflossener Zeiten, von dem offenbar Goethe aufs stärkste angerührt war. Also auch ihm - das war mein großer Trost - war Nr. 2 eine Wirklichkeit. Faust - das ahnte ich mit einigem Schrecken - bedeutete mir mehr als mein geliebtes Johannesevangelium. In ihm lebte etwas, das ich unmittelbar nachfühlen konnte. Der johanneische Christus war mir fremd, aber noch fremder war der synoptische Heilbringer. Faust dagegen war ein lebendiges Äquivalent von Nr. 2, welches mich davon überzeugte, daß er die Antwort darstellte, die Goethe auf die Frage seiner Zeit gegeben hatte. Diese Einsicht war mir nicht nur tröstlich, sondern gab mir auch vermehrte innere Sicherheit und die Gewißheit, zur menschlichen Gesellschaft zu gehören. Ich war nicht mehr der Einzige und ein bloßes Kuriosum, sozusagen ein lusus der grausamen Natur. Mein Pate und Gewährsmann war der große Goethe selber.