Hier hörte allerdings das vorläufige Verständnis auf. Trotz meiner Bewunderung kritisierte ich die endgültige Lösung des Faust. Die spielerische Unterschätzung Mephistos kränkte mich persönlich, ebenso Faustens ruchlose Überheblichkeit und vor allem der Mord an Philemon und Baucis.
In dieser Zeit hatte ich einen unvergeßlichen Traum, der mich zugleich erschreckte und ermutigte. Es war Nacht an einem unbekannten Orte, und ich kam nur mühsam voran gegen einen mächtigen Sturmwind. Zudem herrschte dichter Nebel. Ich hielt und schützte mit beiden Händen ein kleines Licht, das jeden Augenblick zu erlöschen drohte. Es hing aber alles davon ab, daß ich dieses Lichtlein am Leben erhielt. Plötzlich hatte ich das Gefühl, daß etwas mir nachfolge. Ich schaute zurück und sah eine riesengroße schwarze Gestalt, die hinter mir herkam. Ich war mir aber
im selben Moment bewußt - trotz meines Schreckens - daß ich, unbekümmert um alle Gefahren, mein kleines Licht durch Nacht und Sturm hindurch retten mußte. Als ich erwachte, war es mir sofort klar: es ist das «Brockengespenst», mein eigener Schatten auf den wirbelnden Nebelschwaden, verursacht durch das kleine Licht, das ich vor mir trug. Ich wußte auch, daß das Lichtlein mein Bewußtsein war; es ist das einzige Licht, das ich habe. Meine eigene Erkenntnis ist der einzige und größte Schatz, den ich besitze. Er ist zwar unendlich klein und zerbrechlich im Vergleich zu den Mächten der Dunkelheit, aber eben doch ein Licht, mein einziges Licht.
Dieser Traum bedeutete für mich eine große Erleuchtung: jetzt wußte ich, daß Nr. l der Lichtträger war, und Nr. 2 folgte ihm nach wie ein Schatten. Meine Aufgabe war, das Licht zu erhalten und nicht zurückzublicken in die vita peracta, die ein offenbar verbotenes Lichtreich anderer Art war. Ich mußte vorwärts gegen den Sturm, der mich zurückzudrängen suchte, hinein in die uner-meßliche Dunkelheit der Welt, wo man nichts sieht und nichts wahrnimmt als_ Oberflächen hintergründiger Geheimnisse. Ich mußte als Nr. l vorwärts ins Studium, ins Geldverdienen, in Abhängigkeiten, Verwicklungen, Verworrenheiten, Irrtümer, Unterworfenheiten und Niederlagen. Der Sturm, der mir entgegendrang, war die Zeit, die unaufhörlich in die Vergangenheit fließt, die mir aber ebenso unaufhörlich und unmittelbar auf den Fersen ist. Sie ist ein mächtiger Sog, der alles Existierende gierig in sich zieht, und dem nur das Vorwärtsdrängende sich für eine Weile entzieht Die Vergangenheit ist ungeheuer wirklich und gegenwärtig und holt sich jeden, der sich nicht durch eine genügende Antwort loskaufen kann.
Mein Weltbild erfuhr damals eine Drehung um weitere 90 Grad: ich erkannte, daß mein Weg unwiderruflich in das Außen, in das Beschränkte, das Finstere der Dreidimensionalität führte. Es kam mir vor, als habe Adam einst auf diese Weise das Paradies verlassen: es war ihm zum Gespenst geworden, und licht war es, wo im Schweiße seines Angesichts ein steiniger Acker bebaut wurde.
Ich fragte mich damals: «Woher kommt ein derartiger Traum?» Bis dahin war es mir selbstverständlich gewesen, daß solche Träume unmittelbar von Gott gesandt waren - somnia a Deo missa. Jetzt aber hatte ich mir soviel Erkenntniskritik einverleibt, daß mich Zweifel befielen. Man konnte ja z. B. sagen, meine Einsicht habe
sich langsam entwickelt und sei dann plötzlich einmal im Traume durchgebrochen. Das war auch offensichtlich der Fall. Aber dies ist keine Erklärung, sondern eine bloße Beschreibung. Die eigentliche Frage ist nämlich, warum dieser Prozeß stattgefunden hatte und warum er ins Bewußtsein durchgebrochen war. Ich hatte ja im Bewußtsein nichts getan, um diese Entwicklung zu unterstützen, sondern meine Sympathien waren auf der anderen Seite. Da muß doch irgend etwas hinter den Kulissen am Werke sein, etwas Intelligentes, jedenfalls etwas Intelligenteres als ich; denn auf die geniale Idee, daß das innere Lichtreich im Lichte des Bewußtseins ein riesengroßer Schatten ist, wäre ich nicht verfallen. Jetzt verstand ich auf einmal vieles, das mir früher unerklärlich gewesen war: nämlich jenen kalten Schatten des Befremdet- und Fremdseins, welcher jeweils auf die Leute fiel, wenn ich auf irgendetwas anspielte, das an das innere Reich erinnerte.
Ich mußte Nr. 2 hinter mir lassen, das war mir klar, aber unter keinen Umständen durfte ich ihn vor mir selber verleugnen oder ihn gar als ungültig erklären. Das wäre Selbstverstümmelung gewesen, und überdies hätte dann überhaupt keine Möglichkeit mehr bestanden, die Herkunft der Träume zu erklären. Es bestand kein Zweifel für mich, daß Nr. 2 etwas mit der Erzeugung von Träumen zu tun hatte, und die geforderte höhere Intelligenz war ihm leicht zuzutrauen. Ich selber fühlte mich in zunehmendem Maße identisch mit Nr. l, und dieser Zustand erwies sich als ein bloßer Teil des viel umfänglicheren Nr. 2, mit dem ich mich aus eben diesem Grunde nicht mehr identisch fühlen konnte. Nr. 2 war in der Tat ein «Gespenst», das heißt ein Geist, der an Macht dem Weltdunkel gewachsen war. Das hatte ich vordem nicht gewußt, und es war mir auch damals, wie ich rückschauend feststellen kann, nur undeutlich, wenn schon im Gefühl unwidersprechlich bewußt.
Auf alle Fälle war ein Schnitt zwischen mir und Nr. 2 geschehen, der mich Nr. l zuteilte und im selben Maße mich von Nr. 2 abtrennte. Nr. 2 wurde wenigstens andeutungsweise zu einer gewissermaßen autonomen Persönlichkeit. Ich verband damit keine Vorstellung einer bestimmten Individualität, wie etwa die eines Re -venant, obschon mir kraft meiner ländlichen Herkunft eine derartige Möglichkeit durchaus annehmbar gewesen wäre. Auf dem Lande nämlich glaubt man diese Dinge je nachdem - sie sind und sind nicht.
Das einzig Deutliche an diesem Geist war sein historischer Charakter, seine Ausgedehntheit in der Zeit resp. seine Zeitlosigkeit. Dies sagte ich mir allerdings nicht mit so vielen Worten, wie ich mir auch keine Vorstellung machte über seine räumliche Exi stenz. Er spielte die Rolle eines nicht näher definierten, jedoch definitiv vorhandenen Faktors im Hintergrund meiner Existenz.
Der Mensch kommt physisch und geistig mit einer individuellen Disposition zur Welt und wird zunächst mit dem elterlichen Milieu und dessen Geist bekannt, mit welchem er infolge seiner Individualität nur bedingt übereinstimmt. Der familiäre Geist aber ist seinerseits wieder in hohem Maße vom Zeitgeist geprägt, der an sich den meisten unbewußt ist. Wenn dieser familiäre Geist einen con-sensus omnium darstellt, so bedeutet er eine Weltsicherheit; steht er aber im Gegensatz zu den vielen und ist in sich selber durchkreuzt, so entsteht das Gefühl von Weltunsicherheit. Kinder reagieren viel weniger auf das, was die Erwachsenen sagen, als auf die Imponderabilien der umgebenden Atmosphäre. An diese paßt sich das Kind unbewußt an, d. h. es entstehen in ihm Korrelationen kompensatorischer Natur. Die eigentümlichen «religiösen» Vorstellungen, die mich in frühester Kindheit schon befielen, sind spontan entstandene Gebilde, die als Reaktionen auf meine elterliche Umgebung zu verstehen sind. Die Glaubenszweifel, denen mein Vater später manifest unterliegen sollte, hatten in ihm natürlich eine lange Vorbereitungszeit. Eine derartige Revolution der eigenen Welt, und der Welt überhaupt, warf ihre Schatten auf lange Zeit voraus und zwar umso länger, als das Bewußtsein sich verzweifelt gegen ihre Macht wehrte. Es ist begreiflich, daß vorausnehmende Ahnungen meinen Vater in Unruhe versetzten, die selbstverständlich auch auf mich übergingen.
Ich hatte nie den Eindruck, daß solche Einflüsse etwa von meiner Mutter ausgingen, denn sie war irgendwie in einem unsichtbaren, tiefen Grunde verankert, der mir aber nie als eine christliche Glaubenszuversicht erschien. Er hatte meinem Gefühl nach irgendwie mit Tieren, Bäumen, Bergen, Wiesen und Wasserläufen zu tun, womit ihre christliche Oberfläche mit ihren konventionellen Glaubensäußerungen merkwürdig kontrastierte. Dieser Hintergrund entsprach meiner eigenen Einstellung so sehr, daß keine Beunruhigung von ihm ausging; im Gegenteil g ab diese Wahrnehmung mir immer ein Gefühl der Sicherheit und die Überzeugung, daß hier ein fester Grund vorhanden war, auf dem man stehen konnte. Es kam mir dabei nie der Gedanke, wie «heidnisch» diese Grundlegung war. Nr. 2 meiner Mutter war mir die stärkste Stütze in dem sich anbahnenden Konflikt zwischen der väterlichen Tradition und den seltsamen, kompensatorischen Gebilden, zu deren Erschaffung mein Unbewußtes angeregt wurde.