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Rückblickend sehe ich, wie sehr meine kindliche Entwicklung zukünftige Ereignisse vorwegnahm und Anpassungsmodi vorbereitete für den religiösen Zusammenbruch meines Vaters sowohl wie für die erschütternde Offenbarung des heutigen Weltbildes, die ja auch nicht von gestern auf heute entstanden ist, sondern ihren Schatten lange vorausgeworfen hat. Obschon wir Menschen unser eigenes persönliches Leben haben, so sind wir doch auf der anderen Seite in hohem Maße die Repräsentanten, die Opfer und Förderer eines kollektiven Geistes, dessen Lebensjahre Jahrhunderte bedeuten. Wir können wohl ein Leben lang meinen, dem eigenen Kopf zu folgen, und entdecken nie, daß wir zur Hauptsache Statisten auf der Szene des Welttheaters waren. Es existieren aber Tatsachen, die wir zwar nicht kennen, die aber doch unser Leben beeinflussen, und das umso mehr, als sie unbewußt sind.

So lebt wenigstens ein Teil unseres Wesens in den Jahrhunderten, jener Teil, den ich zum privaten Gebrauch als Nr. 2 bezeichnet habe. Daß er kein individuelles Kuriosum ist, beweist unsere abendländis che Religion, die sich expressis verbis an diesen inneren Menschen wendet und es seit bald zweitausend Jahren ernstlich versucht, ihn dem Oberflächenbewußtsein und dessen Personalismus zur Kenntnis zu bringen: «Noii foras ire, in interiore homine habitat veritas!» (Geht nicht nach außen, im inneren Menschen wohnt die Wahrheit).

In die Jahre 1892 bis 1894 fiel eine Reihe heftiger Diskussionen mit meinem Vater. Er hatte in Göttingen orientalische Sprache unter Ewald studiert und seine Dissertation über ein e arabische Version des Hohen Liedes geschrieben. Seine heroische Zeit war mit dem Schlußexamen an der Universität abgelaufen. Danach vergaß er seine philologische Begabung. Als Landpfarrer in Laufen am Rheinfall versank er in Gefühlsenthusiasmus und in studentische Erinnerungen, rauchte immer noch die lange Studentenpfeife und war enttäuscht von seiner Ehe. Er tat sehr viel Gutes - zu viel. Infolgedessen war er meist schlechter Laune und chronisch gereizt. Beide Eltern gaben sich große Mühe, ein frommes Leben zu führen, mit dem Resultat, daß es nur zu oft zu Szenen kam. An dieser Schwierigkeit zerbrach dann später auch begreiflicherweise sein Glaube.

Damals hatten seine Reizbarkeit und Unbefriedigtheit zugenommen, und sein Zustand erfüllte mich mit Besorgnis. Meine Mutter vermied alles, was ihn hätte aufregen können, und ließ sich auf keine Dispute ein. Obschon ich die Weisheit ihres Verhaltens anerkennen mußte, konnte ich oft mein eigenes Temperament nicht zügeln. Seinen Affektausbrüchen gegenüber verhielt ich mich allerdings passiv, aber wenn er in zugänglicher Laune zu sein schien, so versuchte ich des öfteren ein Gespräch mit ihm anzuknüpfen, in der Absicht, etwas Näheres über seine inneren Vorgänge und sein Selbstverständnis zu erfahren. Es stand mir nämlich fest, daß ihn etwas Bestimmtes plagte, und ich vermutete, daß dies mit seiner religiösen Weltanschauung zu tun hatte. Aus einer Reihe von Andeutungen war ich überzeugt, daß es Glaubenszweifel waren. Dies, so kam es mir vor, konnte nur der Fall sein, wenn ihm die nötige Erfahrung fehlte. Aus meinen Ansätzen zu Diskussionen lernte ich in der Tat, daß etwas Derartiges vorliegen mußte, denn auf alle meine Fragen erfolgten entweder die mir bekannten leblosen theologischen Antworten oder ein resigniertes Achselzucken, die meinen Widerspruch reizten. Ich konnte nicht verstehen, daß er nicht jede Gelegenheit ergriff, sich mit seiner Situation kämpferisch auseinanderzusetzen. Zwar sah ich, daß meine kritischen Fragen ihn traurig machten, aber ich hoffte dennoch auf ein konstruktives Gespräch. Es erschien mir fast unvorstellbar, daß er die Gotteserfahrung, die evidenteste aller Erfahrungen, nicht besitzen sollte. Ich wußte wenigstens so viel von Erkenntnistheorie, daß man eine derartige Erkenntnis nicht beweisen kann, aber es war mir ebenso klar, daß sie auch gar keines Beweises bedurfte, so wenig wie die Schönheit eines Sonnenaufgangs oder die Angst vor den Möglichkeiten der Nachtwelt mir bewiesen werden mußten. Ich versuchte, in wahrscheinlich sehr ungeschickter Weise, ihm diese Selbstverständlichkeiten zu vermitteln, in der hoffnungsvollen Absicht, ihm zu helfen, sein besonderes Schicksal, das ihm unvermeidlicherweise zugefallen war, zu ertragen. Er mußte ja mit jemandem hadern, und er tat dies mit seiner Familie und sich selbst. Warum tat er es nicht

mit Gott, dem dunkeln auctor rerum creatarum, dem Einzigen, der wirklich für das Leiden der Welt verantwortlich ist? Er hätte ihm sicher als Antwort einen jener zauberhaften, endlos-tiefen Träume geschickt, die Er mir sogar, ohne gefragt zu werden, schickte und damit mein Schicksal besiegelte. Ich wußte nicht wieso - es war halt so. Ja, Er hatte mir sogar einen Einblick in Sein eigenes Wesen eröffnet. Dieses letztere war allerdings ein großes Geheimnis, das ich auch meinem Vater nicht verraten durfte oder konnte. Vielleicht, so schien es mir, hätte ich es verraten können, wenn er imstande gewesen wäre, die unmittelbare Erfahrung Gottes zu begre ifen. Aber ich kam in meinen Gesprächen mit ihm nie so weit, nicht einmal in Sicht des Problems, weil ich es immer in sehr un-psychologischer und intellektueller Weise anging und den Gefühls aspekt tunlichst vermied, um seine Emotionen fernzuhalten. Aber diese Art der Annäherung wirkte jedesmal wie das rote Tuch auf den Stier und führte zu gereizten Reaktionen, die mir unverständlich waren. Ich war nämlich unfähig zu verstehen, wieso ein völlig vernünftiges Argument auf einen emotionalen Widerstand stoßen konnte.

Diese fruchtlosen Diskussionen verärgerten ihn und mich, und wir zogen uns schließlich davon zurück, jeder mit seinem spezifischen Minderwertigkeitsgefühl. Die Theologie hatte meinen Vater und mich entfremdet. Ich empfand es wiederum als eine fatale Niederlage, in der ich mich allerdings nicht allein fühlte. Ich hatte eine dunkle Ahnung, daß mein Vater seinem Schicksal unentrinnbar verfallen war. Er war einsam. Er hatte keinen Freund, mit dem er sich besprechen konnte, wenigstens kannte ich niemanden in unserer Umgebung, dem ich es zugetraut hätte, das erlösende Wort zu finden. Einmal hörte ich ihn beten: er rang verzweifelt um seinen Glauben. Ich war erschüttert und empört zugleich, weil ich sah, wie hoffnungslos er der Kirche und ihrem theologischen Denken verfallen war. Sie hatten ihn treulos verlassen, nachdem sie ihm alle Möglichkeiten, unmittelbar zu Gott zu gelangen, verrammelt hatten. Jetzt verstand ich zutiefst mein Erlebnis: Gott selber hatte in meinem Traum die Theologie und die darauf gegründete Kirche desavouiert. Andererseits hatte Er die Theologie, wie so vieles andere, zugelassen. Es kam mir lächerlich vor anzunehmen, daß die Menschen solche Entwicklungen veranlaßt haben könnten. Was waren schon die Menschen? Sie sind dumm und blind geboren wie junge Hunde, wie alle Geschöpfe

Gottes, mit spärlichstem Lichte ausgerüstet, das die Finsternis, in der sie tappen, nicht erhellen kann. So viel stand für mich fest, und ebenso sicher war mir, daß keiner der mir bekannten Theologen «das Licht, das in die Finsternis schien», mit eigenen Augen gesehen hatte, sonst hätten sie keine «theologische Religion» lehren können. Mit der «theologischen Religion» konnte ich nichts anfangen; denn sie entsprach nicht meinem Gotteserlebnis. Ohne Hoffnung auf Wissen forderte sie auf zu glauben. Das hatte mein Vater mit größter Anstrengung versucht und war daran gescheitert. Ebenso wenig konnte sich mein Vater gegen den lächerlichen Materialismus der Psychiater verteidigen. Das war ja auch so etwas, das man glauben mußte, genau wie die Theologie! Ich war sicherer denn je, daß beiden sowohl Erkenntniskritik wie Erfahrung fehlte.