Man ist ein psychischer Ablauf, den man nicht beherrscht, oder doch nur zum Teil. Infolgedessen hat man kein abgeschlossenes Urteil über sich oder über sein Leben. Sonst wüßte man alles dar
über, aber das bildet man sich höchstens ein. Im Grunde genommen weiß man nie, wie alles gekommen ist. Die Geschichte eines Lebens fängt irgendwo an, an irgendeinem Punkt, den man gerade eben erinnert, und schon da war es hochkompliziert. Was das Leben wird, weiß man nicht. Darum hat die Geschichte keinen Anfang, und das Ziel ist nur ungefähr anzugeben.
Das Leben des Menschen ist ein fragwürdiger Versuch. Es ist nur zahlenmäßig eine ungeheure Erscheinung. Es ist so flüchtig, so ungenügend, daß es geradezu ein Wunder ist, wenn etwas existieren und sich entfalten kann. Das hat mich als jungen Medizinstudenten schon beeindruckt, und es schien mir wie ein Wunder, wenn ich nicht vor der Zeit zerstört werden sollte.
Das Leben ist mir immer wie eine Pflanze vorgekommen, die aus ihrem Rhizom lebt. Ihr eigentliches Leben ist nicht sichtbar, es steckt im Rhizom. Das, was über dem Boden sichtbar wird, hält nur einen Sommer. Dann verwelkt es - eine ephemere Erscheinung. Wenn man an das endlose Werden und Vergehen des Lebens und der Kulturen denkt, erhält man den Eindruck absoluter Nichtigkeit;
aber ich habe nie das Gefühl verloren für etwas, das unter dem ewigen Wechsel lebt und dauert. Was man sieht, ist die Blüte, und die vergeht. Das Rhizom dauert.
Im Grunde genommen sind mir nur die Ereignisse meines Lebens erzählenswert, bei denen die unvergängliche Welt in die vergängliche einbrach. Darum spreche ich hauptsächlich von den inneren Erlebnissen. .Zu ihnen gehören meine Träume und Imaginationen. Sie bilden zugleich den Urstoff meiner wissenschaftlichen Arbeit. Sie waren wie feurig-flüssiger Basalt, aus welchem sich der zu bearbeitende Stein auskristallisiert.
Neben den inneren Ereignissen verblassen die anderen Erinnerungen, Reisen, Menschen und Umgebung. Zeitgeschichte haben viele erlebt und darüber geschrieben; man kann es besser bei ihnen nachlesen oder sich davon erzählen lassen. Die Erinnerung an die äußeren Fakten meines Lebens ist mir zum größten Teil verblaßt oder entschwunden. Aber die Begegnungen mit der anderen Wirklichkeit, der Zusammenprall mit dem Unbewußten haben sich meinem Gedächtnis unverlierbar eingegraben. Da war immer Fülle und Reichtum, und alles andere trat dahinter zurück.
So wurden mir auch Menschen zu unverlierbaren Erinnerungen nur vermöge des Umstandes, daß im Buche meines Schicksals ihr
Name schon seit jeher eingetragen stand und das Bekanntwerden mit ihnen auch zugleich etwas wie ein Wiedererinnern war.
Auch die Dinge, die in der Jugend oder später von außen an mich herankamen und mir bedeutsam wurden, standen im Zeichen des inneren Erlebnisses. Sehr früh war ich zu der Einsicht gekommen, daß wenn es auf die Verwicklungen des Lebens keine Antwort und keine Lösung von Innen her gibt, sie letzten Endes wenig besagen. Die äußeren Umstände können die inneren nicht ersetzen. Darum ist mein Leben arm an äußeren Ereignissen. Ich kann nicht viel davon erzählen; denn es käme mir leer oder wesenlos vor. Ich kann mich nur aus den inneren Geschehnissen verstehen. Sie machen das Besondere meines Lebens aus, und von ihnen handelt meine «Autobiographie».
Kindheit
Ein halbes Jahr nach meiner Geburt (1875) zogen meine Eltern von Keßwil (Kanton Thurgau) am Bodensee in die Pfarrei des Schlosses Laufen oberhalb des Rheinfalls.
Meine Erinnerungen beginnen etwa mit dem zweiten oder dritten Jahr. Ich erinnere mich an das Pfarrhaus, den Garten, das Buchihüsli, die Kirche, das Schloß, den Rheinfall, das Schlößchen Wörth und den Bauernhof des Meßmers. Es sind lauter Erinnerungsinseln, die in einem unbestimmten Meere schwimmen, anscheinend ohne Verbindung.
Da taucht eine Erinnerung auf, vielleicht die früheste meines Lebens und darum nur ein ziemlich vager Eindruck: Ich liege in einem Kinderwagen, im Schatten eines Baumes. Es ist ein schöner warmer Sommertag, blauer Himmel. Goldenes Sonnenlicht spielt durch grüne Blätter. Das Dach des Wagens ist aufgezogen. Ich bin eben erwacht in der herrlichen Schönheit und fühle unbeschreibliches Wohlbehagen. Ich sehe die Sonne durch die Blätter und Blüten der Bäume glitzern. Alles ist höchst wunderbar, farbig und herrlich.
Eine andere Erinnerung: Ich sitze in unserem Eßzimmer auf der Westseite des Hauses in einem hohen Kinderstuhl und löffle warme Milch mit Brotbröckchen drin. Die Milch hat einen Wohlgeschmack und einen charakteristischen Geruch. Es war das erste Mal, daß ich den Geruch bewußt wahrnahm. Das war der Augenblick, als ich mir sozusagen über das Riechen bewußt geworden bin. Diese Erinnerung geht auch sehr weit zurück.
Oder: ein schöner Sommerabend. Eine Tante sagt: «Jetzt will ich dir etwas zeigen.» Sie ging mit mir vors Haus, auf die Straße nach Dachsen. Weit unten am Horizont lag die Alpenkette in glühendem Abendrot. Man sah sie an jenem Abend ganz klar. «Lueg jetz dert, die Barg sind alli rot.» Da sah ich zum ersten Mal die Alpen! Dann hörte ich, daß die Kinder von Dachsen morgen einen Schulausflug nach Zürich auf den Uetliberg machen würden. Ich wollte durchaus mit. Zu meinem Schmerz wurde ich belehrt, daß so kleine Kinder nicht mit dürften, da sei halt
nichts zu machen. Von da an waren Zürich und der Uetliberg das unerreichbare Wunschland, nahe bei den glühenden Schneebergen.
Aus etwas späterer Zeit: meine Mutter fuhr mit mir in den Thurgau, um Freunde zu besuchen. Sie hatten ein Schloß am Bodensee. Da war ich vom Ufer nicht wegzubringen. Die Sonne glitzerte auf dem Wasser. Die Wellen vom Dampfer kamen ans Ufer. Sie hatten den Sand auf dem Grunde zu kleinen Rippen geformt. Der See dehnte sich in unabsehbare Ferne, und diese Weite war ein unvorstellbarer Genuß, eine Herrlichkeit ohnegleichen. Damals setzte sich die Idee bei mir fest, ich müsse an einem See leben. Ohne Wasser, so dachte ich, könne man überhaupt nicht sein.
Noch eine andere Erinnerung: fremde Leute, Geschäftigkeit, Aufregung. Die Magd kam gerannt: «Die Fischer haben eine Leiche gelandet — über den Rheinfall hinunter — sie wollen sie ins Waschhaus bringen.» Mein Vater sagte: «Ja - ja.» Ich wollte die Leiche sofort sehen. Meine Mutter hielt mich zurück und verbot mir streng, in den Garten zu gehen. Als die Männer fortgegangen waren, eilte ich heimlich durch den Garten zum Waschhaus. Aber die Türe war verschlossen. Dann ging ich ums Haus herum. Auf der hinteren Seite befand sich ein offener Ablauf zum Hang hinunter. Da tröpfelte Wasser und Blut heraus. Das interessierte mich außerordentlich. Ich war damals noch nicht vier Jahre alt.
Ein anderes Bild taucht auf: Ich bin unruhig, fiebrig, schlaflos. Mein Vater trägt mich auf den Armen, geht im Zimmer auf und ab und singt dabei seine alten Studentenlieder. Ich erinnere mich namentlich an eines, das mir besonders gefiel und mich immer beruhigt hat. Es war das sogenannte Lied vom Landesvater: «Alles schweige, jeder neige . . .» so etwa lautete der Anfang. Ich erinnere mich heut noch an die Stimme meines Vaters, der in der Stille der Nacht über mir sang.
Ich litt, wie meine Mutter mir nachträglich erzählte, an einem allgemeinen Ekzem. Dunkle Andeutungen über Schwierigkeiten in der Ehe der Eltern umschwebten mich. Meine Krankheit muß wohl im Zusammenhang gestanden haben mit einer temporären Trennung meiner Eltern (1878). Meine Mutter war damals während mehrerer Monate im Spital in Basel, und vermutlich war ihr Leiden die Folge ihrer Enttäuschung in der Ehe. Damals betreute mich eine Tante, an die zwanzig Jahre älter als meine Mutter. Die lange Abwesenheit meiner Mutter hat mir schwer zu schaffen gemacht. Seit jener Zeit war ich immer mißtrauisch sobald das Wort «Liebe» fiel. Das Gefühl, das sich mir mit dem «Weiblichen» verband, war lange Zeit: natürliche Unzuverlässigkeit. «Vater» bedeutete für mich Zuverlässigkeit und — Ohnmacht. Dies ist das handicap, mit dem ich angetreten bin. Später wurde dieser frühe Eindruck revidiert. Ich habe geglaubt. Freunde zu haben, und bin von ihnen enttäuscht worden, und ich war mißtrauisch gegenüber Frauen und bin nicht enttäuscht worden.