An unsere Übersiedlung nach Klein-Hüningen bei Basel 1879 erinnere ich mich nicht mehr, wohl aber an ein Ereignis, das einige Jahre später stattfand: Eines Abends nahm mich mein Vater aus dem Bett und trug mich auf seinem Arm auf unsere nach Westen gelegene Laube und zeigte mir den Abendhimmel, der im herrlichsten Grün schimmerte. Das war nach dem Ausbruch des Krakatau, 1883.
Ein andermal nahm mich mein Vater ins Freie und zeigte mir einen großen Kometen, der am östlichen Horizont stand.
Einmal gab es eine große Überschwemmung. Der Fluß Wiese, der durch das Dorf fließt, hatte die Dämme gebrochen. Im Oberlauf war eine Brücke eingestürzt. Vierzehn Leute waren ertrunken und wurden vom gelben Wasser zum Rhein hinuntergeschwemmt. Als das Wasser zurückging, hieß es, es lägen Leichen im Sande. Da gab es für mich kein Halten mehr. Ich fand die Leiche eines Mannes in mittlerem Alter, in einem schwarzen Gehrock offenbar gerade aus der Kirche gekommen! Halb von Sand zugedeckt lag er da, den Arm über den Augen. Zum Entsetzen meiner Mutter faszinierte es mich auch, zuzusehen, wie ein Schwein geschlachtet wurde. All diese Dinge waren für mich von größtem Interesse.
In jene Klein -Hüninger Jahre reichen auch meine frühesten Erinnerungen an die 'bildende Kunst. Im elterlichen Hause, dem Pfarrhaus aus dem 18. Jahrhundert, gab es ein feierliches dunkles Zimmer. Dort standen die guten Möbel, und an den Wänden hingen alte Gemälde. Ich erinnere mich vor allem an ein italienisches Bild, welches David und Goliath darstellte. Es war eine Spiegelkopie aus der Werkstatt des Guido Reni, das Original hängt im Louvre. Wie es in unsere Familie gekommen ist, weiß ich nicht. Noch ein anderes altes Gemälde hing dort, das sich jetzt im Hause meines Sohnes befindet; es war ein Basler Landschaftsbild aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts. Oft schlich ich heimlich in den abgelegenen dunkeln Raum und saß stundenlang vor den Bildern, um diese Schönheit anzusehen. Es war ja das einzige Schöne, das ich kannte.
Einmal hat mich damals — ich war noch sehr klein, etwa sechs Jahr alt eine Tante mit nach Basel genommen und mir die ausgestopften Tiere im Museum gezeigt. Wir verweilten uns lange dort, weil ich alles ganz genau ansehen wollte. Um vier Uhr ertönte das Glockensignal zum Zeichen, daß das Museum geschlossen würde. Meine Tante drängte, aber ich konnte mich nicht von den Schaukästen trennen. So war mittlerweile der Saal geschlossen worden, und wir mußten auf einem anderen Weg zur Treppe gelangen, nämlich durch die Antiken-Galerie. Plötzlich stand ich vor diesen herrlichen Gestalten! Ganz überwältigt riß ich die Augen auf, denn noch nie hatte ich etwas derart Schönes gesehen. Ich konnte nicht genug schauen. Meine Tante zerrte mich an der Hand zum Aus
gang - ich immer ein Stück hinter ihr - und rief: «Abscheulige Bueb, tue d'Auge zue, abscheulige Bueb, tue d'Auge zue!» Erst in dem Augenblick bemerkte ich, daß die Gestalten nackt waren und Feigenblätter trugen! Das hatte ich vorher gar nicht gesehen. So verlief mein erster Zusammenstoß mit der schönen Kunst. Meine Tante war in heller Entrüstung, wie wenn sie durch ein pornographisches Institut hindurchgeschleust worden wäre.
Als ich sechs Jahre alt war, machten meine Eltern mit mir einen Ausflug nach Ariesheim. Bei dieser Gelegenheit trug meine Mutter ein Kleid, das mir unvergeßlich geblieben ist und zugleich das einzige darstellt, das ich an ihr erinnere: es war ein schwarzer Stoff, bedruckt mit kleinen grünen Halbmonden. In diesem frühesten Erinnerungsbild erscheint meine Mutter als eine schlanke junge Frau. In meinen anderen Erinnerungen ist sie stets älter und korpulent.
Wir kamen zu einer Kirche, und meine Mutter sagte: «Das ist eine katholische Kirche.» - Meine Neugier, untermischt mit Angst, ließ mich der Mutter entlaufen, um durch die offene Tür ins Innere zu blicken. Ich sah gerade noch die großen Kerzen auf einem reichgeschmückten Altar (es war um die Osterzeit), als ich plötzlich über eine Stufe stolperte und mit dem Kinn auf ein Scharreisen aufschlug. Ich weiß nur, daß mich meine Eltern mit einer stark blutenden Wunde auflasen. Ich war in einem merkwürdigen Gemütszustand. Einerseits schämte ich mich, daß ich infolge meines Geschreis die Aufmerksamkeit der Kirchgänger auf mich gezogen hatte, andererseits hatte ich das Gefühl, etwas Verbotenes angestellt zu haben: Jesuiten - grüner Vorhang - Geheimnis des Menschenfressers . .. Das ist also die katholische Kirche, die mit Jesuiten zu tun hat. Die sind schuld daran, daß ich gestolpert bin und geschrien habe!
Jahrelang konnte ich keine katholische Kirche mehr betreten ohne geheime Angst vor Blut, Hinfallen und Jesuiten. Das war der Ton oder die Atmosphäre, von der sie umwittert war. Aber immer hat sie mich fasziniert. Die Nähe eines katholischen Priesters war womöglich noch unbehaglicher. Erst in meinen Dreißigerjahren, als ich den Stephansdom in Wien betrat, konnte ich die Mater Ecciesia ohne Beschwernis fühlen.
Mit sechs Jahren begannen meine Lateinstunden, die mir mein Vater erteilte. Ich ging nicht ungern zur Schule. Sie fiel mir leicht, da ich den ändern immer voraus war. Ich konnte auch schon lesen,
bevor ich in die Schule kam. Ich erinnere mich aber an die Zeit, als ich noch nicht lesen konnte, dafür aber meine Mutter plagte, mir vorzulesen, und zwar aus dem «Orbis pictus», einem alten Kinderbuch', in dem sich eine Darstellung exotischer Religionen fand, insbesondere der indischen. Es gab Abbildungen von Brahma, Vishnu und Shiva, die mich mit unerschöpflichem Interesse erfüllten. Meine Mutter erzählte mir später, daß ich immer wieder auf sie zurückgekommen sei. Ich hatte dabei das dunkle Gefühl von Verwandtschaft mit meiner «Uroffenbarung», über die ich nie zu jemandem gesprochen hatte. Sie war mir ein nicht zu verratendes Geheimnis. Ich wurde darin von meiner Mutter indirekt bestätigt, da mir der Ton leichter Verachtung, in dem sie von den «Heiden» sprach, nicht entging. Ich wußte, daß sie meine «Offenbarung» mit Entsetzen abgewiesen hätte. Einer solchen Verletzung wollte ich mich nicht aussetzen.
Dieses unkindliche Verhalten hing einerseits mit einer großen Sensitivität und Verletzlichkeit zusammen, andererseits - und dies in besonderem Maße — mit der großen Einsamkeit meiner frühen Jugend. (Meine Schwester war neun Jahre jünger als ich.) Ich spielte allein und auf meine Manier. Leider kann ich mich nicht an das erinnern, was ich spielte, sondern nur daran, daß ich nicht gestört sein wollte. Ich war mit Andacht in meine Spiele versunken und konnte es nicht ausstehen, dabei beobachtet oder beurteilt zu werden. Ich erinnere mich aber, daß ich in meinem siebenten bis achten Jahre leidenschaftlich gerne mit Bauklötzchen spielte und Türme baute, die ich mit Wonne durch «Erdbeben» zerstörte. Zwischen dem achten und elften Jahr zeichnete ich endlos Schlachtenbilder, Belagerungen, Beschießungen, auch Seeschlachten. Dann füllte ich ein ganzes Heft mit Klecksographien und ergötzte mich an deren phantastischer Ausdeutung. Die Schule war mir deshalb lieb, weil ich dort endlich die längst entbehrten Spielgefährten fand.
Ich fand aber noch etwas anderes, das zu einer merkwürdigen Reaktion in mir führte. Bevor ich davon erzähle, möchte ich erwähnen, daß die nächtliche Atmosphäre sich zu verdichten begann. Es ging allerhand vor, Ängstliches und Unverständliches. Meine Eltern schliefen getrennt. Ich schlief im Zimmer des Vaters. Aus der Tür zum Zimmer der Mutter kamen beängstigende Einflüsse. Nachts war die Mutter unheimlich und geheimnisvoll. Eines nachts
' Nicht zu verwechseln mit dem «Orbis pictus» von J. A. Comenius. sah ich aus ihrer Tür eine etwas luminose, unbestimmte Gestalt treten, deren Kopf sich nach vorn vom Hals abhob und in die Luft vorausschwebte, wie ein kleiner Mond. Sofort entstand ein neuer Kopf, der sich wieder abhob. Dieser Prozeß wiederholte sich sechs- bis siebenmal. Ich hatte Angstträume von Dingen, die bald groß, bald klein waren. So z. B. eine kleine Kugel in weiter Entfernung, die sich allmählich annäherte und dabei ins Ungeheure und Erdrückende wuchs, oder Telegraphendrähte, auf denen Vögel saßen. Die Drähte wurden immer dicker, und meine Angst wurde immer größer, bis ich daran erwachte.