Obschon diese Träume auf der physiologischen Vorbereitung der Adoleszenz beruhten, hatten sie doch ein Vorspiel, etwa im siebenten Jahr: Damals litt ich an Pseudocroup mit Erstickungsanfällen. Während dieser Anfälle stand ich auf dem Bett am Fußende hintenüber gebeugt, und mein Vater hielt mich unter den Armen. Über mir sah ich einen blauen leuchtenden Kreis von der Größe des Vollmondes, und darin bewegten sich goldene Gestalten, die ich für Engel hielt. Diese Vision beschwichtigte jeweils die Erstickungsangst. In den Träumen taucht sie jedoch wieder auf. Ein psychogenes Moment scheint mir dabei die entscheidende Rolle gespielt zu haben: die geistige Atmosphäre hatte angefangen, irrespirabel zu werden.
Ich ging höchst ungern in die Kirche. Der Weihnachtstag bildete die einzige Ausnahme. Der Weihnachtschoraclass="underline" «Dies ist der Tag, den Gott gemacht» gefiel mir über die Maßen. Am Abend kam der Weihnachtsbaum. Das ist das einzige christliche Fest, das ich mit Inbrunst feierte. Alle anderen Feste ließen mich kalt. An zweiter Stelle kam der Silvesterabend. Die Adventszeit hatte etwas an sich, das mit der kommenden Weihnacht nicht recht übereinstimmen wollte. Es hatte mit Nacht, Wetter und Wind zu tun, auch mit der Dunkelheit des Hauses. Es raunte etwas — es ging etwas um.
In jene frühe Kinderzeit fiel eine Entdeckung, die ich im Umgang mit meinen ländlichen Schulkameraden machte: sie alienierten mich. Ich wurde anders mit ihnen, als wenn ich Zuhause allein war. Ich machte Streiche mit oder erfand selber solche, die mir zu-hause, wie es mir schien, nie eingefallen wären. Ich wußte zwar nur zu gut, daß ich auch, wenn ich allein Zuhause war, allerhand aushecken konnte. Es schien mir aber, daß ich meine Veränderung dem Einfluß meiner Kameraden verdankte, die mich irgendwie verführten oder anders zu sein zwangen, als ich zu sein meinte. Der
Einfluß der weiteren Welt, in der ich andere Leute als meine Eltern kennen lernte, erschien mir zweifelhaft, wenn nicht überhaupt verdächtig, und in dunkler Weise feindselig. In zunehmendem Maße nahm ich die Schönheit der hellen Tageswelt wahr, wo «goldenes Sonnenlicht durch grüne Blätter spielt». Gleich daneben aber ahnte ich eine unabweisbare Schattenwelt mit beängstigenden unbeantwortbaren Fragen, denen ich mich ausgeliefert fühlte. Mein Nachtgebet gab mir zwar einen rituellen Schutz, indem es den Tag richtig abschloß und ebenso richtig die Nacht und den Schlaf einleitete. Die neue Gefahr aber lauerte am Tage. Es war, wie wenn ich eine Entzweiung meiner selbst fühlte und befürchtete. Meine innere Sicherheit war bedroht.
Ich erinnere mich, daß ich in dieser Zeit (siebentes bis neuntes Jahr) gern mit Feuer spielte. In unserem Garten stand eine alte Mauer aus großen Steinblöcken, deren Zwischenräume interessante Höhlen bildeten. In diesen pflegte ich ein kleines Feuer zu unterhalten, wobei mir andere Kinder halfen — ein Feuer, das «immer» brennen und darum stets unterhalten werden mußte. Dazu bedurfte es unserer vereinten Anstrengungen, die im Sammeln des nötigen Holzes bestanden. Niemand anderer durfte dieses Feuer besorgen als ich. Die anderen konnten in anderen Höhlen andere Feuer anzünden, aber diese Feuer waren profan und gingen mich nichts an. Mein Feuer allein war lebendig und hatte einen unverkennbaren Beigeschmack von Heiligkeit. Das war damals für lange Zeit mein beliebtestes Spiel.
Vor dieser Mauer zog sich ein Abhang entlang, in welchem ein Stein eingebettet lag, der etwas hervorragte - mein Stein, öfters, wenn ich allein war, setzte ich mich auf ihn, und dann begann ein Gedankenspiel, das etwa so lautete: «Ich sitze auf diesem Stein. Ich bin oben und er ist unten.» — Der Stein könnte aber auch sagen: «Ich» und denken: «Ich liege hier, auf diesem Hang, und er sitzt auf mir.» — Dann erhebt sich die Frage: «Bin ich der, der auf dem Stein sitzt, oder bin ich der Stein, auf dem er sitzt?» — Diese Frage verwirrte mich jeweils, und ich erhob mich, zweifelnd an mir selber und darüber grübelnd, wer jetzt was sei. Das blieb unklar, und meine Unsicherheit war begleitet vom Gefühl einer merkwürdigen und faszinierenden Dunkelheit. Unzweifelhaft war aber die Tatsache, daß dieser Stein in geheimer Beziehung zu mir stand. Ich konnte stundenlang auf ihm sitzen und war gebannt von dem Rätsel, das er mir aufgab.
Dreißig Jahre später stand ich wieder auf jenem Abhang, war verheiratet, hatte Kinder, ein Haus, einen Platz in der Welt und einen Kopf voll von Ideen und Plänen, und plötzlich war ich wieder das Kind, das ein Feuer voll heimlicher Bedeutung entzündet und auf dem Stein sitzt, von dem man nicht weiß, ob er ich ist oder ich er. - Mein Leben in Zürich fiel mir plötzlich ein und erschien mir fremd, wie eine Kunde aus einer anderen Welt und Zeit. Es war verlockend und zugleich erschreckend. Die Welt meiner Kindheit, in die ich eben versunken war, war ewig, und ich war ihr entrissen und in eine weiter rollende, immer weiter sich entfernende Zeit hineingefallen. Ich mußte mich gewaltsam von diesem Ort abwenden, um meine Zukunft nicht zu verlieren.
Dieser Moment ist mir unvergeßlich, denn er hat mir blitzartig den Ewigkeitscharakter meiner Kindheitszeit erleuchtet. Was mit dieser «Ewigkeit» gemeint ist, zeigte sich bald darauf in meinem zehnten Lebensjahr. Meine Entzweiung und Unsicherheit in der großen Welt führte mich zu einer mir damals unverständlichen Maßnahme : ich benutzte in jener Zeit eine gelb lackierte Federschachtel, mit einem kleinen Schloß, wie sie die Primarschüler besitzen. Darin fand sich auch ein Lineal. An dessen Ende schnitzte ich nun ein kleines, etwa sechs Zentimeter großes Männchen mit «Gehrock, Zylinder und blankgewichsten Schuhen». Ich färbte es mit Tinte schwarz, sägte es vom Lineal ab und legte es in die Federschachtel, wo ich ihm ein Bettchen bereitete. Ich machte ihm aus einem Stück Wolle sogar ein Mäntelchen. Zu ihm legte ich einen glatten, länglichen, schwärzlichen Rheinkiesel, den ich mit bunten Wasserfarben so bemalt hatte, daß er in einen oberen und einen unteren Teil getrennt war. Er hatte mich lange in meiner Hosentasche begleitet. Das war sein Stein. Das Ganze war für mich ein gro ßes Geheimnis, von dem ich jedoch nichts verstand. Ich brachte die Schachtel mit dem Männchen heimlich auf den oberen, verbotenen Estrich (verboten, weil die Bodenbretter wurmstichig und morsch und daher gefährlich waren) und versteckte sie auf einem Stützbalken des Dachstuhls. Dabei empfand ich große Befriedigung; denn das würde niemand sehen. Ich wußte, daß dort kein Mensch es finden könnte. Niemand konnte mein Geheimnis entdecken und zerstören. Ich fühlte mich sicher, und das quälende Gefühl der Entzweiung mit mir selber war behoben.
In allen schwierigen Situationen, wenn ich etwas angestellt hatte oder meine Empfindlichkeit verletzt worden war, oder wenn die
Reizbarkeit meines Vaters oder die Kränklichkeit meiner Mutter mich bedrückten, dachte ich an mein sorgsam gebettetes und eingehülltes Männchen und seinen schöngefärbten glatten Stein. Von Zeit zu Zeit - oft mit wochenlangen Unterbrechungen - stieg ich heimlich, und nur, wenn ich sicher war, daß mich niemand sah, auf den oberen Estrich. Dort kletterte ich auf die Balken, öffnete die Schachtel und schaute mir das Männchen und den Stein an. Dabei legte ich auch jedesmal ein kleines Papierröllchen hinein, auf das ich vorher etwas geschrieben hatte. Das tat ich während der Schulstunden in einer von mir ersonnenen Geheimschrift. Es waren Papierstreifen, dicht beschrieben, die aufgerollt und dem Männchen Zur Verwahrung übergeben wurden. Ich erinnere mich, daß der Akt der Einverleibung eines neuen Röllchens stets den Charakter einer feierlichen Handlung trug. Leider kann ich mich nicht entsinnen, was ich dem Männchen mitteilen wollte. Ich weiß nur, daß meine «Briefe» für ihn eine Art Bibliothek bedeuteten. Ich habe die unsichere Vermutung, es könnten gewisse Sentenzen, die mir besonders genelen, gewesen sein.