›Johannes, genannt der Täufer, ist ein vorbildlicher Mensch. Seine Lehre ist: Die Juden sollen sich darin üben, Gutes zu tun, nämlich gerecht gegenüber anderen Menschen zu sein und Gott zu verehren. Das vorausgesetzt, sollten sie zur Taufe zusammenkommen. Diese Taufe ist nach seiner Lehre nur dann vor Gott wertvoll, wenn der Mensch durch das Ausüben von Gerechtigkeit im Innern schon gereinigt ist und die Taufe nur noch zur Heiligung des Körpers dient, nicht aber zur Vergebung aller möglichen Sünden.‹ 42
Ehrlich gesagt: Mit so einer unpräzisen Beschreibung können wir wenig anfangen. All das könnte man von vielen heiligen Menschen sagen. Wir brauchen genauere Unterlagen. Wir haben nämlich erfahren, Herodes Antipas habe den Johannes eingesperrt, weil er einen Aufstand im Volk befürchtete. 43 Wir fragen uns: Wie kann ein harmloser Heiliger einen Aufstand hervorrufen? Ich bin sicher, die Beschreibung, die ich dir vorlas, verschweigt das Wichtigste. Sie läßt drei Fragen offen:
Erstens: Warum wirkte Johannes in der Wüste? Warum dieser Rückzug aus der normalen Welt wie bei den Essenern? Warum diese Verachtung der Menschen? Vor allem: Gibt es eine Beziehung zu den Nabatäern, zu den südlichen Nachbarn?
Zweitens: Was ist aus den Anhängern des Johannes geworden, seitdem ihr Anführer im Gefängnis sitzt? Gibt es Nachfolgeorganisationen? Haben sie ihre Aktivität nach Judäa verlegt, weil ihnen im Gebiet des Herodes Antipas der Boden zu heiß geworden ist? Ist zu befürchten, daß sie Unruhe stiften?
Drittens: Wie verhält sich Herodes Antipas? Will er Johannes ewig im Gefängnis sitzen lassen? Ist sein Regime durch die von Johannes ins Leben gerufene Opposition gefährdet? Natürlich sind wir an allem Material interessiert, das Antipas belasten könnte. Der schwärzt uns bei jeder Gelegenheit in Rom an. Da muß man für einen Ausgleich sorgen. Vielleicht könnte man die Geschichte mit dem inhaftierten Heiligen gebrauchen. Herodes Antipas empfiehlt sich ja immer wegen seines größeren Geschicks im Umgang mit den komplizierten religiösen Fragen der Juden!
Das wäre es also! Du kannst als Getreidekaufmann durch das Land reisen. Wenn du erste Ergebnisse gesammelt hast, sende sie über die Postorganisation des römischen Heeres an uns. Ansonsten erwarten wir dich in circa zwei Monaten zu einem Bericht in Jerusalem.«
Ich wollte schon gehen, als mich Metilius noch einmal in ein Gespräch verwickelte.
»Ich habe seit unserem ersten Gespräch viel über eure Religion nachgedacht. Als ich das Material über die Essener zusammenstellte, kam mir folgender Gedanke: Könnte in dieser Gruppe nicht etwas zum Ausdruck kommen, was für euer Volk typisch ist? Diese Leute ziehen sich von allen anderen zurück. Sie gehen in die Wüste – so wie einmal das ganze Volk aus Ägypten in die Wüste zog. Liegt darin nicht Menschenverachtung? Eine Ablehnung von Fremden und anderen Völkern; ja eine Ablehnung der Menschen überhaupt?«
Die Worte des Metilius trafen mich hart. Vorurteile gegen uns Juden aus seinem Munde hören zu müssen, tat weh. Denn Metilius war ein fähiger römischer Beamter, dem vielleicht eine bedeutende Laufbahn bevorstand. Er wirkte nicht unsympathisch, war belesen und um Verständnis für unsere Religion bemüht. Trotzdem hatte er die Taktlosigkeit, unsere heiligsten Traditionen gegen uns auszuspielen. Bitter sagte ich:
»Der Vorwurf des Menschenhasses ist eine üble Verleumdung. Unser Gesetz lehrt uns, in jedem Menschen Gottes Ebenbild zu achten.«
Metilius rechtfertigte sich:
»Aber warum schreibt einer unserer besten Historiker über euch, untereinander hättet ihr engen Zusammenhalt und große Hilfsbereitschaft, gegenüber allen anderen Menschen jedoch feindseligen Haß? 44 Warum konnte er diesen Eindruck haben? Das versuche ich zu verstehen. Deshalb frage ich: Hängt das mit eurer Vertreibung aus Ägypten zusammen? Hat sie vielleicht eine tiefe Kränkung in euch hinterlassen 45 , eine Angst, ihr könntet wieder wie rechtlose Menschen aus allen Ländern vertrieben werden?«
Es wirkte wie eine Verlegenheitsgeste, als Metilius die ausgebreitete Landkarte zusammenrollte und in einen ledernen Köcher steckte. Ich erklärte:
»Der Auszug aus Ägypten hat uns entscheidend geprägt. Er bedeutet Befreiung aus Sklaverei und Unterdrückung. Wir erinnern uns an ihn nicht, um uns von anderen fernzuhalten, sondern um anderen nicht das Unrecht anzutun, das wir selbst in Ägypten erlitten haben.«
»Was heißt das konkret?« fragte er, während er das offene Ende des Köchers mit einem ledernen Verschluß sicherte.
»Daß wir die Fremden in unserem Land wie Brüder behandeln! Mose hat uns geboten: ›Wenn ein Fremder bei euch wohnt in eurem Land, so sollt ihr ihn nicht bedrücken. Wie ein Einheimischer von euch sei euch der Fremde, der mit euch wohnt; und du sollst ihn lieben wie dich selbst, denn Fremde wart ihr in Ägypten!« 46
»Aber warum gibt es so viel Haß gegen uns Römer in diesem Land?«
Wir redeten aneinander vorbei:
»Es heißt: Du sollst den Fremden nicht bedrücken. Bedrücken wir die Römer? Wer unterdrückt hier wen?«
Mein aggressiver Tonfall hatte ihn irritiert. Er hob den Kopf und sah mich an:
»Wir unterdrücken nicht. Wir schaffen Frieden. Euer Gesetzgeber Mose steht uns nicht fern. Auch wir meinen: Fremde sollen in unserem Reich in rechtlich gesicherten Verhältnissen leben.«
Ich schaute ihn skeptisch an. Metilius war gerade dabei, den Köcher in einem Behälter an der Wand zu verstauen. Dadurch entstand eine Pause. Dann kam er auf mich zu, legte seine Hand auf meine Schulter und sagte:
»Ich habe mich seit unserem ersten Gespräch über Mose belesen. Ich fand noch eine andere Darstellung eures Auszugs aus Ägypten. 47 Mose sei ein ägyptischer Priester gewesen, der mit seinen Anhängern nach Judäa ausgewandert sei, weil er mit der ägyptischen Religion unzufrieden war. Er habe die Ägypter kritisiert, weil sie ihre Götter in Tiergestalt darstellten, aber auch die Griechen, weil sie die Götter als Menschen abbildeten. Der Gott, der alles umfasse, Land und Meer, Himmel und Erde und alles Sein, der sei unsichtbar und mit nichts Sichtbarem zu vergleichen. Kein Bild dürfe man sich von ihm machen. Mose habe daher einen bilderlosen Gottesdienst in Jerusalem eingerichtet – und Gott so gelehrt, wie man ihn verehren müsse. Seine Nachfahren aber seien abergläubische Priester gewesen. Sie hätten das Volk gelehrt, sich von anderen Völkern abzusondern – durch Speisetabus und die Beschneidung. Die großartige Idee des Mose vom bilderlosen Gottesdienst sei durch diese Sitten verdunkelt worden. Ich fand diese Darstellung faszinierend. Ich meine: Wenn es nur um die Verehrung des bilderlosen Gottes ginge, könnten sich Juden und Griechen einigen. Auch einige griechische Philosophen behaupten, es sei lächerlich, sich Gott in Tier- und Menschengestalt vorzustellen! Was meinst du?«
»Haben diese Philosophen die Griechen etwa gelehrt, auf ihre Götterbilder zu verzichten? Haben sie irgend jemanden davon abgehalten, nebeneinander viele Götter zu verehren? Nein – ihnen fehlte der Mut, gegen die herkömmliche Religion den Gedanken des einen und einzigen Gottes durchzusetzen. Nur Mose hat diesen Mut gehabt. Nur wir Juden haben die Konsequenzen aus seiner Erkenntnis auf uns genommen.« 48
Metilius trat einen Schritt zurück. Seine Stimme klang leidenschaftlich: »Aber das ist gerade das Problem, Andreas! Versetz dich in die Lage anderer! Wie muß eure Religion auf sie wirken. Ihr verehrt einen Gott, der allein ist. Er hat keinen Vater, keine Mutter, keine Kinder unter den anderen Göttern. Er ist ohne Verwandte! Ohne Familie! Er ist genau so isoliert unter den Göttern wie ihr unter den Völkern. Wenn die Götter der Völker keine Familie bilden – wie sollen dann die Völker zu einer Familie zusammenwachsen? Wie soll Frieden unter den Völkern herrschen?«