Ich protestierte: »Eure Götter bilden keine friedliche Familie. Sie kämpfen und intrigieren gegeneinander. Erst wenn alle Menschen Ehrfurcht vor dem einen und einzigen Gott haben, wird Friede auf Erden sein!«
»Wirklich? Wer andere Götter ablehnt wie ihr, lehnt der nicht auch die Menschen ab, die sie verehren? Wer die Alleinherrschaft seines Gottes proklamiert, fordert er damit nicht auch für sich Alleinherrschaft? Kannst du verstehen, daß sich andere dadurch bedroht fühlen?«
»Wenn der unsichtbare Gott nicht auf seiten der Herrscher steht, sondern auf seiten der Verlierer und Schwachen – wen bedroht er?«
»Die Juden waren nicht immer schwach. Sie haben mächtige Reiche gebildet.«
»Aber jetzt ist unser Volk unterworfen. Wen bedrohen wir? Für wen bin ich eine Gefahr, ich, der ich in eurer Hand bin?«
Metilius zuckte zusammen.
»Ja, ihr seid ein unterworfenes Volk. Aber das Ziel römischer Politik ist es, aus Unterworfenen Freunde zu machen. Dazu möchte ich in diesem Land beitragen. Deshalb beschäftige ich mich mit eurer Religion. Ich habe heute eine Menge dazugelernt. Ich verstehe, warum viele sagen: Die Juden sind ein Volk von Philosophen. 49 Philosophen haben es schwer. Sie gelten schnell als Atheisten und Unruhestifter: Anaxagoras wurde verjagt, Sokrates mußte den Schierlingsbecher trinken. Warum? Sie hatten neue und abweichende Ideen. Auch ihr Juden habt eine neue und abweichende Idee: den Glauben an den einen und einzigen Gott, der den Schwachen hilft. Es ist eine großartige Idee. Aber mit ihr ist eine große Last verbunden: die Last, anders zu sein als andere Völker.«
»Es ist oft eine Last. Aber es ist eine große Aufgabe, Zeuge für den lebendigen Gott zu sein, bis daß alle Völker ihn anerkennen!«
Ehe wir uns trennten, fragte ich nach Timon. Metilius sagte, er solle morgen freigelassen werden. Ich insistierte darauf, daß er sofort die Freiheit erhalten solle. Metilius zögerte. Aber ich drang in ihn, wie Mose in Pharao drang: Laß uns ziehen! Heute noch können wir mit unserer Aufgabe beginnen. Endlich willigte er ein.
Sehr geehrter Herr Kratzinger,
nach der Lektüre des letzten Kapitels fragen Sie mich ironisch, ob das Buch nicht besser ›Streit ums Judentum‹ anstatt ›Der Schatten des Galiläers‹ heißen sollte. Richtig ist: Wenn sich christliche Theologie um den historischen Jesus streitet, setzt sie sich mit ihren jüdischen Ursprüngen auseinander. Wo sie sich nicht für den historischen Jesus interessiert, neigt sie dazu, diese Ursprünge zu verdrängen.
Um Jesu Verkündigung heute verständlich zu machen, ist sachlich eine Einführung in den jüdischen Glauben notwendig. Dem Judentum verdanken wir den Glauben an den einen und einzigen Gott. Dieser war lange Zeit selbstverständlich. Heute ist er Sache einer Minorität. Man muß ihn – als wichtigste historische und sachliche Voraussetzung der Verkündigung Jesu – erst neu zugänglich machen.
Dabei ist der jüdische Ursprung dieses Glaubens eine Hilfe. Christlicher Glaube an Gott wurde durch seine Verflechtung mit Macht und Herrschaft oft gründlich kompromittiert. Juden haben als verfolgte Minorität jahrhundertelang glaubwürdiger bezeugt, daß der Gott der Bibel nicht auf seiten der Mächtigen und Herrschenden steht.
Sie deuten in Ihrem Brief an, in meiner Wertschätzung des Judentums klinge das Entsetzen über den Holocaust nach. Natürlich haben Sie recht! Natürlich habe ich eine »bestimmte Brille« auf, wie Sie sagen. Aber ist Sympathie nicht besser als Abneigung und Haß? Vielleicht sollten wir weniger über unsere »Brillen« streiten, als darüber, was wir mit ihrer Hilfe sehen! Vielleicht sehen wir durch sie auch beim historischen Jesus Neues!
Auch das folgende Kapitel dient dazu, die Welt des damaligen Judentums lebendig werden zu lassen. Auf Ihr Urteil bin ich gespannt.
Ich bleibe mit freundlichen Grüßen
Ihr
Gerd Theißen
5. KAPITEL
Die Wüstengemeinde
Wir waren wieder zu dritt. Noch am selben Abend, als Timon freigelassen worden war, begannen wir die Suche nach Malchos. Wir fanden ihn bei Bekannten in Jerusalem. Jetzt ritten wir durch die Jordanwüste in Richtung Totes Meer. Unser Ziel waren die Essener. Offen war, ob wir je zu ihnen gelangen würden. Denn wie sollten wir an sie herankommen? Wie konnten wir ihr Mißtrauen gegen Außenstehende überwinden? Den ganzen Weg grübelte ich darüber nach.
Sollten wir es mit einer Spende versuchen? Geld öffnet viele Türen. Warum sollten die Leute in Qumran eine Ausnahme bilden? Doch angeblich verachteten sie Geld und Privatbesitz. Alles gehörte der Gemeinde. Und man hatte mir erzählt, daß die Gemeinde wohlhabend sei. Die Essener arbeiteten als Bauern, Töpfer und Schreiber. Sie züchteten Fische, verkauften Salz und Asphalt aus dem Toten Meer. 50 Sie hatten eigene Einkünfte. Das machte sie immun gegen Geld.
Sollte ich so tun, als wolle ich ihrer Gemeinde beitreten? Mußten sie mich dann nicht über alle ihre Geheimnisse infomüeren? Aber ich ahnte: Wahrscheinlich würden sie mehr Informationen über mich sammeln als ich über sie. So viel war ja bekannt, daß das Aufnahmeverfahren mehrere Jahre dauerte. 51 Es würde viel Zeit brauchen, ihr Vertrauen zu gewinnen.
Vielleicht könnte ich über Bannos einen Weg zu ihnen finden? Einen Wüstenasketen müßten sie als Geistesverwandten akzeptieren. Aber wie sollte ich Bannos bewegen, zusammen mit mir nach Qumran zu reisen? Auch müßte ich ihn zuerst finden. Und auch dann wären nicht alle Hindernisse überwunden: Würde Bannos nicht in mir einen Abtrünnigen sehen?
An die Essener war kaum heranzukommen.
Der Weg führte durch eine Landschaft, die so tot war wie das Tote Meer: öde Sandhügel, die den Blick immer nur für wenige hundert Meter freigaben. Nirgendwo ein Baum oder Strauch. Erst in unmittelbarer Nähe des Jordans wuchs ein dichter Waldstreifen. In so einer Landschaft zwischen Jordan und Wüste hatte ich meine Zeit bei Bannos verbracht. Aber das war weiter oben, im Norden des Jordantals gewesen.
Langsam trotteten wir durch die abgestorbene Gegend. Da – was war das? Ein Mensch? Oder hatte das flimmernde Licht uns getäuscht? Aber jetzt war es unverkennbar: In einiger Entfernung bewegte sich eine dunkle Gestalt. Ein Verirrter? Er hatte weder Pferd noch Esel.
Als wir näher kamen, merkten wir, daß sich die Gestalt nur langsam bewegte. Jetzt setzte sie sich auf die Erde. Wir beschleunigten unseren Ritt. Vielleicht konnten wir helfen?
Aber warum hob der Mann seine Hände? Wollte er uns herbeiwinken? Es sah eher nach Abwehr aus. Jetzt waren wir nahe genug, um ihn zu erkennen: Eine ausgemergelte Gestalt hockte auf dem Boden. Kein Zweifel, er brauchte Hilfe! Trotzdem hob er abwehrend die Hände!
Ob er in uns Feinde sah? Räuber, die ihn ausplündern und mißhandeln wollten? Ich stieg vom Pferd und ließ die anderen zurück. In meiner Hand hielt ich demonstrativ einen Wasserbeutel, um meine guten Absichten klarzumachen. So näherte ich mich vorsichtig.
Noch immer wehrte der Mann ab. Ich hörte, wie er mir zurief: »Nein, nein!«
Ich wurde unsicher. Halluzinierte er schon? Oder war es ein armer Besessener, den sein Dämon in die Wüste getrieben hatte? Solche Leute gingen hier jämmerlich zugrunde, wenn man sie nicht in die Nähe bewohnter Orte brachte, wo sie vom Betteln leben konnten.
Als ich näherkam, wollte der Fremde weglaufen. Torkelnd erhob er sich. Er war am Ende seiner Kräfte. Ich hatte ihn bald eingeholt.