Baruch lehnte ab: »Wir dürfen kein Vertrauen zu Menschen außerhalb unserer Gemeinde haben!«
»Aber Baruch«, entgegnete ich. »Du hast schon Vertrauen gefaßt!«
Verlegen sagte er: »Vielleicht habt ihr recht.«
Ich drängte weiter in ihn: »Und vertraust du wirklich den Essenern?«
Da rief er: »Eben darum ging ja der Streit! Ich wollte eine Gemeinschaft, der man sich anvertrauen kann!«
Und plötzlich sprudelte es aus ihm heraus: Er erzählte die Geschichte seines Ausschlusses. Oft in abgehackten Sätzen. Die Erregung ließ ihn immer wieder stocken. Aber allmählich verstanden wir.
Wer in die Gemeinde eintritt, gibt allen Besitz ab. Die Gemeindeglieder nennen sich daher die »Armen im Geiste«. Reichtum gilt als Schritt zum Verderben. Aber während ihrer Novizenzeit werden die Mitglieder unter höchster Geheimhaltung mit rätselhaften Kupfertafeln bekannt gemacht, zu denen nur die Aufseher Zugang haben. 56 Auf diesen Kupfertafeln sind Angaben über unvorstellbare Schätze eingraviert, genaue Angaben darüber, wo man graben muß, um sie zu finden. Angaben über Mengen und Arten der Metalle. Niemand hat je diese Schätze gesehen. Aber jeder glaubt an ihre Existenz.
Baruch hatte gemeint: Die Gemeinde müsse konsequent dem Reichtum entsagen. Wie könne man sich die »Armen« nennen, wenn man weit größere Vermögen besaß als alle Einkünfte Judäas, Galiläas und Palästinas zusammen? Man solle den Schatz für die Unterstützung Armer verwenden.
Es hatte eine große Debatte gegeben. Im Verlauf der Diskussion hatte sich Baruch zu der Vermutung hinreißen lassen: Vielleicht existierten die Schätze gar nicht! Vielleicht erzähle man den Novizen nur von ihnen, um ihnen die Abgabe ihres Besitzes zu erleichtern. Sie sollten darauf vertrauen, daß sie materiell gut versorgt waren! Aber er wolle nicht, daß ihr Zusammenleben auf Illusionen baue! Entweder solle man nachweisen, daß die Schätze wirklich existieren. Oder man solle nicht länger von ihnen reden.
Der Verdacht des Betrugs hatte die Mehrheit verbittert. Baruch wurde als Bedrohung des Gemeinschaftsfriedens ausgestoßen – und zwar unbefristet!
Ich fragte nach den Ausschlußbestimmungen im einzelnen. Baruch nannte einige Fälle:
»Für falsche Besitzangaben beim Eintritt in die Gemeinde gibt es ein Jahr Ausschluß und lebenslänglich Kürzung der Essensration um ein Viertel. Ein halbes Jahr gibt es bei Lügen, bei Wut auf ein Gemeindeglied, oder wenn man nackt herumläuft. Einen Monat kriegt man für Disziplinlosigkeiten bei den Gemeindeversammlungen, wenn man sich z.B. unerlaubt entfernt, in der Versammlung spuckt oder laut lacht. Zehn Tage Ausschluß gibt es, wenn während der Versammlung einer einschläft oder mit der linken Hand herumfuchtelt!« 57
»Drastische Strafen«, sagte ich. »Willst du wirklich in diese Gemeinde zurück? Warum hängst du so an ihr? Warum bist du in sie eingetreten?«
»Das erste, was ich von den Essenern hörte, war: Sie lehnen die Sklaverei ab. Sie lehnen sie ab, weil sie gegen die Gleichheit der Menschen verstößt. Sie widerspreche dem Gesetz der Natur. Diese habe alle Menschen geboren und aufgezogen. Alle seien Kinder der Natur. Alle Menschen seien Brüder. Erst der Reichtum habe sie entzweit, habe Vertrauen in Mißtrauen, Freundschaft in Feindschaft verwandelt. 58 Ich war fasziniert. Wo gibt es sonst eine Gemeinschaft, die Sklaverei ablehnt? Nirgendwo!«
»Aber habt ihr die Sklaverei der Menschen nicht gegen die Sklaverei harter Gesetze eingetauscht?«
»Unsere Gemeinde widerspricht dem üblichen Lebensstil! Wer so stark abweicht, muß sich schroff gegen die Umwelt abgrenzen! Unsere Gesetze müssen hart sein!«
Und nach einer Pause fügte er hinzu:
»Ihr seht nur die harten Seiten unseres Lebens. Ihr seht nicht das andere! Welche Freude bereitet es, einer Welt entronnen zu sein, in der sich die Menschen unterdrücken, ausbeuten und quälen! Wir warten auf eine wunderbare Verwandlung der Welt. Und wir leben schon jetzt so, wie man in dieser neuen Welt leben wird.
Darüber singen wir wunderbare Lieder, die uns der Gründer unserer Gemeinde hinterlassen hat. 59
Ich preise dich, Gott,
daß du mein Leben dem Tod entrissen hast.
Aus einer Hölle hast du mich befreit!
Einer neuen Welt gehöre ich an.
Ich werde leben, wie es deiner neuen Welt entspricht.
Ich weiß: Es gibt Hoffnung für mich,
obwohl ich aus Staub gebildet bin.
Denn du befreist mich von allen Verfehlungen,
so daß ich in die Gemeinde heiliger Menschen eintreten kann.
Solche Lieder singen wir manchmal bei unseren Mahlzeiten. 60 Auf sie freuen wir uns besonders. Alle sind rein gewaschen. Sie kommen aus einem frischen Bad und haben ihre Arbeitskleider abgelegt. Der Bäcker bringt die Brote, der Koch stellt jedem ein Essen hin. Der Priester segnet das Essen. Alles ist ruhig. Ein Außenstehender würde nicht viel beobachten können. Wir aber erleben diese gemeinsamen Mahlzeiten als Vorwegnahme der zukünftigen Mahlzeiten. In der neuen Welt wird der Messias mit uns gemeinsam an einem Tisch sitzen. Aber, wie gesagt: All das läßt sich für Nicht-Eingeweihte nicht beschreiben. Diese Freude kann nur spüren, wer zur Gemeinde gehört.«
Ich unterbrach ihn: »Auch ich werde diese Freude spüren, wenn du mit uns zusammen essen wirst.«
Baruch schaute mich erstaunt an. Ich zog langsam ein paar Datteln aus unserem Gepäck und bot sie ihm an. Timon, Malchos und ich schauten gespannt auf Baruch. Würde er sie nehmen? Er zögerte. Keiner sagte einen Ton. Alles war still. Die Spannung ließ die Luft zwischen uns vibrieren. Noch immer hielt ich die Datteln hin. Endlich griff Baruch zu.
»Danke!« sagte er, nahm die Datteln und verteilte sie an alle. Wir lachten. Wir aßen. Baruch gehörte zu uns.
Am selben Tag noch kehrten wir aus der Wüste ins Leben zurück: nach Jericho. Baruch blieb bei uns. In langen Gesprächen erfuhr ich alles über die Essener, mehr, als ich je gehofft hatte. Ich war fasziniert von dieser Gemeinschaft, auch wenn sie mir nach wie vor unheimlich war. Im Gasthaus zu Jericho entwarf ich einen ersten Bericht über sie auf einem Papyrusblatt. Ich hatte mich dazu ein wenig zurückgezogen. Die Gäste, meist Kaufleute mit kleinen Karawanen, lagerten im Schatten vor der Herberge. Ich aber saß in einem kleinen Zimmer und schrieb:
Über die Essener
Die Essener sind eine sehr disziplinierte Gemeinde, die sich auf religiöse Fragen konzentriert. Sie sind in die Wüste gezogen, weil sie meinen, im normalen Leben die Gebote Gottes nicht erfüllen zu können. Sie weichen von den anderen Juden vor allem durch einen eigenen Kalender ab: sie feiern ihre Feste nach dem Sonnenkalender, während alle anderen dem Mondkalender folgen. Daher können sie nicht am Tempelkult teilnehmen. Wenn dort heilige Feste sind, ist bei ihnen Alltag. Wenn sie Feste feiern, haben andere einen normalen Tag. 61
Ihr Verhältnis zur Jerusalemer Priesteraristokratie ist nicht so gespannt wie früher. Sie beteiligen sich zwar nicht am Opferkult, senden aber Weihegaben an den Tempel.
Für den Staat stellen sie keine Gefahr dar. Alle Mitglieder müssen beim Eintritt in die Gemeinde schwören, daß sie sich nicht an Räubereien (und dazu gehören auch Anschläge gegen die Römer) beteiligen. Sie haben keine geheimen Waffenlager. Vielmehr begnügt sich jeder mit einem Schwert, mit dem er sich gegen Überfälle schützt. 62