Die Essener legen unsere Ehegesetze sehr streng aus. Sie lehnen jede Polygamie ab und sagen: Gott hat den Menschen als Mann und Frau geschaffen – also nicht als Mann und zwei Frauen. Sie argumentieren: Ehegesetze gelten für Mann und Frau. Wenn die Frau nur einen Mann haben darf, so der Mann nur eine Frau. Entsprechend sagen sie: Wenn der Mann seine Tante nicht heiraten darf, darf auch die Frau ihren Onkel nicht heiraten. Auch lehnen sie die Scheidung ab. 63 Mit dieser Auslegung der Ehegesetze müssen sie das Familienleben unserer herodäischen Fürsten kritisieren: Herodes der Große lebte mit vielen Frauen zusammen. Seine Söhne heirateten oft ihre eigenen Nichten. Sicher ist, daß sie die Ehe des Herodes Antipas mit seiner Schwägerin ablehnen.«
Ich schrieb jedoch nicht, daß die Essener die Römer haßten. Zwar verzichteten sie auf bewaffneten Widerstand in der Gegenwart. Dafür träumten sie von einem großen Krieg am Ende der Zeiten. Dann würden sie zusammen mit allen Kindern des Lichts die Kinder der Finsternis besiegen und umbringen. Die Frage war nur: Wann sie zur Erkenntnis kommen würden, daß die letzten Tage gekommen seien. Dann könnten sie gefährlich werden. 64
Ich berichtete auch nicht von der radikalen Kritik an Macht und Reichtum, die in ihrer Gemeinde Gestalt angenommen hatte. Wer wie sie den lebenden Beweis führte, daß Leben ohne Privateigentum möglich war, mußte von allen Mächtigen abgelehnt werden und für sie eine Gefahr darstellen.
Außerdem schwieg ich über die glühende Erwartung eines nahen Umschwungs der Dinge, über das Kommen eines neuen messianischen Königs und eines neuen messianischen Hohenpriesters. Prophetien über die Änderung aller Dinge galten bei Politikern immer als gefährlich. Es gab Kaiser, die alle Wahrsagungen verboten hatten.
Ich war in Gedanken über die Essener vertieft, als es vor dem Gasthaus laut wurde. Irgend etwas war passiert. Ich horchte auf. Ich bekam nur einige Wortfetzen mit. Irgend jemand war umgebracht worden. Empörte Stimmen waren zu hören, dann Klagen, dann dumpfes Gemurmel. Ich wollte schnell nach draußen. Da kam schon Baruch auf mich zu.
»Weißt du das Neueste? Sie haben ihn umgebracht!«
»Wen?«
»Den Propheten Johannes!«
Sehr geehrter Herr Kratzinger,
die Essener erinnern Sie an moderne Jugendreligionen. In der Tat: Bei der Niederschrift des letzten Kapitels hatte ich konkrete Erlebnisse mit »Sektenabhängigen« vor Augen. Habe ich also gegenwärtige Erfahrungen in die Vergangenheit zurückprojiziert?
Zunächst eine grundsätzliche Bemerkung: Fänden wir in der Vergangenheit nur, was unseren Erfahrungen entspricht, verlören wir das Interesse an ihr. Fänden wir nur, was ihnen widerspricht, bliebe sie unverständlich. Interessant ist das Fremde. Verständlich wird es durch Beziehung auf Vertrautes.
Doch nun zum letzten Kapiteclass="underline" Die Essener sind keine moderne Jugendsekte. Sie bieten nicht autoritären Halt in einem Klima »liberaler« Orientierungsunsicherheit. Sie sind trotz aller Absonderung von der Gesellschaft in einen großen Konsens eingebettet: Daß Gott in der Thora gültige Anweisungen für das Leben gegeben hat. Die Interpretation der Thora mag strittig sein, unstrittig ist ihre Geltung. Diese muß jedoch gegen die vordringende hellenistisch-heidnische Kultur verteidigt werden.
Damals war die Frage, ob man einen vorgegebenen Orientierungsrahmen richtig erfüllte! Nur für ganz wenige war es eine reale Alternative, sich dem heidnisch-hellenistischen Leben anzuschließen. Heute fragen dagegen Jugendliche: Woran sollen wir uns überhaupt orientieren? Obwohl uns die Essener an eine moderne Jugendreligion erinnern, sind sie doch etwas anderes.
Was Geschichtsforschung menschlich wertvoll macht, ist gerade diese gegenseitige Erhellung von Vergangenheit und Gegenwart. Was wir über vergangenes Leben lernen, wirft immer ein Licht auf uns selbst.
Lassen Sie mich zum Schluß versichern, wie wichtig mir Ihre kritischen Bemerkungen sind. Hoffentlich finden Sie Zeit, mir auch zum nächsten Kapitel Ihre Meinung zu sagen.
Mit herzlichen Grüßen
Ihr
Gerd Theißen
6. KAPITEL
Ein Mord und seine Analyse
Baruch war außer Atem: »Herodes Antipas hat Johannes den Täufer hinrichten lassen! Die ganze Stadt schwirrt von Gerüchten!«
Ich war bestürzt. Wieder war etwas Schreckliches geschehen! Darüber mußte ich mehr erfahren. Das war etwas für Pilatus! Jetzt hatte er einen Trumpf gegen Antipas in der Hand. Sogar einen Heiligen hatte der hinrichten lassen!
Auf dem Platz vor der Herberge war eine Menschenmenge zusammengelaufen. Der junge Mann, der die schreckliche Botschaft überbracht hatte, stand in der Mitte und beantwortete die auf ihn einstürmenden Fragen so gut er konnte. Ich drängte mich vor, bis ich alles gut verstehen konnte. Der junge Mann gestikulierte mit beiden Händen: »Dahinter steckt die Herodias, seine neue Frau! Sie wollte ihn unbedingt heiraten, obwohl das gegen unsere Gesetze verstößt. Denn sie mußte sich erst vom Halbbruder des Antipas scheiden lassen.65 Diese Frau schreckt vor nichts zurück: Sie ist schuld am Tode des Propheten. Sie wollte die Kritik an ihrer neuen Ehe zum Schweigen bringen!«
Aus der Menge kamen Beifallrufe. Ein anderer schaltete sich ein: »Die Herodias ist geschickt vorgegangen. Antipas ist viel zu gutmütig. Er soll nichts gegen den Täufer gehabt haben. Gegen seinen Willen mußte er die Hinrichtung anordnen. Als er einmal guter Laune war, hat er sich von seiner Frau das Versprechen ablocken lassen, ihr einen Wunsch zu erfüllen – und dann hat sie den Kopf des Täufers verlangt.«
»So etwas bringt eine Frau allein nicht zustande«, rief ein dritter dazwischen, »dazu gehören zwei: Herodias und ihre Tochter Salome. Die Oberschicht Galiläas und Peräas war zu einem Festbankett zusammengekommen. Die Laune stieg. Antipas hatte schon einiges getrunken. Da fing die Salome an vorzutanzen. Die Gesellschaft war begeistert. Antipas versprach ihr, jeden Wunsch zu erfüllen – und wenn es sein halbes Königreich wäre. Wahrscheinlich hat er einen harmlosen Wunsch erwartet, wie ihn Mädchen in diesem Alter haben. Aber die Salome hat sich von ihrer Mutter den Wunsch diktieren lassen: Sie wollte den Kopf des Propheten.«
Mir war klar: Das war Hofklatsch.66 Wenn das so weiter ging, würde man am Ende erzählen, Salome habe ihren Onkel Antipas verführt. All diese Erzählungen entsprachen den üblichen Klischees: Um eine Hofintrige zu inszenieren, braucht man ein paar raffinierte Frauen, einen gutmütigen Fürsten, ein Opfer, ein unvorsichtig gegebenes Versprechen usw. Das konnte nicht die ganze Wahrheit sein. Ich wandte mich an den, der zuerst gesprochen hatte. Bei ihm klang alles am wenigsten übertrieben.
»Woher hast du die Nachricht?«
»In Jericho sind ein paar Beamte des Antipas eingetroffen!«
»Sind sie noch da?«
»Sie haben im Winterpalast des Herodes Quartier bezogen.«67
»Kennst du ihre Namen?«
»Ich glaube, einer heißt Chusa. Er ist ein Verwalter des Antipas.«
Das war eine gute Nachricht. Ich kannte Chusa gut. Er war mein Geschäftspartner bei vielen Getreideverkäufen gewesen. Niemand konnte besser über die Vorgänge im Haus des Antipas informiert sein als er. Schnell schickte ich Timon als Boten in den Herodespalast, um ihm zu melden, ich sei in Jericho. Ob ich ihn sprechen könne? Chusa antwortete mir sofort, er freue sich sehr, mich wiederzusehen. Er sei auf dem Heimweg nach Tiberias. Ob ich mit ihm und seiner Frau zu Abend essen wolle?
Chusa und seine Frau Johanna empfingen mich in einem luxuriösen Triklinium: Drei Liegen standen um kleine Tische wie in einer römischen Villa. Den Fußboden schmückte ein kunstvoll komponiertes Mosaik mit pflanzlichen Motiven.68 An den Wänden bildete rosa und blauer Marmor ein genau abgestimmtes Muster. Oder war der Marmor nur aufgemalt? Wir legten uns zum Essen. Sklaven brachten die Speisen: Salat, Schnecken, Eier, Griespudding mit Honig, als Zuspeise Oliven, Mangold, Gurken und Zwiebel.69 Dazu ein hervorragender Wein. Seit meinem Aufenthalt im Gefängnis hatte ich nicht mehr so gut gegessen. War das ein Genuß! Ich mußte mich im Zaum halten, um nicht gierig zu erscheinen.