»Sie werden jedem aus der begüterten Oberschicht mißtrauen.«
»Im Gegenteiclass="underline" Die Widerstandskämpfer setzen gerade auf die junge Oberschichtgeneration. Wir wissen, daß einige ihrer Anführer aus diesen Kreisen kommen.«93
Wie recht er hat, dachte ich: Barabbas stammte aus einer verarmten Familie, aber im Grunde aus meiner Schicht. Jetzt sollte ich gegen ihn und seine Leute spionieren. Das konnte mich in Lebensgefahr bringen. Bei einem verschuldeten Bauern waren die Motive klar, wenn er zu ihnen in die Berge floh. Kamen dagegen Oberschichtangehörige zu ihnen, so mußten sie entweder Feinde oder potentielle Führer in ihnen sehen – oder Verräter! Sie mußten voll Mißtrauen gegen mich sein – es sei denn, ich würde mich offen auf ihre Seite schlagen, und das konnte ich nicht. Ich mußte etwas mitbringen, um ihr Vertrauen zu erwerben. Ich hatte eine Idee:
»Wie wäre es, wenn ich den Terroristen gezielt Informationen über eine bevorstehende Aktion gegen sie zuspiele? Dann würde ich sie überzeugen können, daß ich wirklich mit ihnen sympathisiere.«
»Aber wir können ihnen doch nicht unsere Pläne verraten!«
»Das ist nicht nötig. Es könnte sich ja um eine Scheinaktion handeln, z.B. verstärkte Kontrollen zwischen Ptolemais und Galiläa. Ich kündige sie im voraus an. Wenn sie dann tatsächlich durchgeführt werden, wird man Vertrauen zu mir fassen.«
»Keine schlechte Idee«, meinte Metilius, »wie wäre es, wenn wir in drei Wochen diese Kontrollen durchführen?«
»Gut! Bis dahin müßte ich aber Kontakt zu den Widerstandskämpfern gefunden haben. Das wird nicht leicht sein. Denn sie wohnen in unzugänglichen Höhlen. Niemand weiß wo. Vielleicht brauche ich mehr Zeit. Wie wäre es mit Scheinkontrollen in circa sechs Wochen?«
»Auf keinen Fall! Die erste Aktion ist genug. Wenn sie wie angekündigt eintritt und planmäßig ein Fehlschlag wird, werden die Terroristen übermütig und unbesonnen. Das wäre uns recht.«
Ich hatte genug gehört. Wenn Metilius von einer ersten Aktion sprach, mußte es noch eine zweite geben. Diese zweite Aktion aber würde in sechs Wochen stattfinden.
Metilius war inzwischen aufgestanden, um ein Papyrusblatt mit Notizen zu holen: »Ich muß dich noch über die wichtigsten Daten informieren, die ich in unseren Akten über die Terroristen gefunden habe:
Als vor circa 24 Jahren der Herodessohn Archelaos abgesetzt wurde, kam Judäa mit Samarien unter direkte römische Verwaltung. Dieser Übergang zur römischen Verwaltung machte eine Steuerveranlagung der ganzen Bevölkerung notwendig, wie wir sie in jeder Provinz durchführen. Mit ihr beauftragt war der syrische Legat Quirinius. Erfahrungsgemäß kommt es bei solchen Steuerveranlagungen und Volkszählungen oft zu Unruhen wie z.B. in Lusitanien und Dalmatien. So auch in Judäa. Hauptanstifter war Judas der Galiläer94, der schon am Anfang der Regierungszeit des Archelaos für Unruhen in Sepphoris gesorgt hatte. Er stammte aus einer traditionsreichen Banditenfamilie. Sein Vater Ezechias hatte als Oberräuber dem König Herodes das Leben schwer gemacht. Er selbst verband sich mit einem jüdischen Schriftgelehrten namens Zadok und propagierte folgende Lehre: Steuerzahlungen an die Römer widersprächen dem ersten Gebot der jüdischen Religion. Wer dem Kaiser Steuern zahle, erkenne neben Gott einen anderen als Herrn an. Das Land gehöre allein Gott. Nur Gott habe das Recht, von den Erträgen des Landes Abgaben zu erheben – in Form von Abgaben an den Tempel. Diese Widerstandsgruppen nennen sich manchmal auch Zeloten, d.h. Eiferer. Sie eifern für Gott und die jüdischen Gesetze, die sie ziemlich extrem auslegen. Ihr Aufstand wurde damals blutig niedergeschlagen. Wahrscheinlich kam Judas dabei um.95 Vermutlich führen seine Söhne noch heute den Widerstand im verborgenen weiter.«96
Metilius hielt sein Notizblatt noch immer in der Hand. Nachdenklich meinte er: »Da regieren wir nun ein Vierteljahrhundert diese Provinz – und noch immer herrscht im Land kein rechter Friede. Noch immer gärt es unter der Oberfläche! Irgend etwas machen wir falsch! Aber was? Was macht Pilatus eigentlich falsch, Andreas?«
Auf diese Frage war ich nicht gefaßt. Wollte Metilius mich demütigen, indem er von mir Ratschläge zur besseren Unterdrükkung meines Volkes erbat? Wollte er meine Meinung über Pilatus ausforschen? Mich auf meine Loyalität gegenüber dem römischen Präfekten hin testen? Oder hatte er Zweifel an der Richtigkeit der Politik, die auch er zu vertreten hatte? Ich mußte vorsichtig sein:
»Ich glaube schon, daß Pilatus auf dem richtigen Weg ist. Aber er wählt manchmal die falschen Methoden!«
»Was meinst du damit?«
»Ich meine z.B. seine Münzpolitik. Alle Präfekten vor ihm haben darauf verzichtet, auf ihren Münzen heidnische Symbole darzustellen. Sie begnügten sich mit Ähren oder Palmen oder anderen Harmlosigkeiten. Aber Pilatus ließ gleich am Anfang seiner Amtszeit Münzen mit einem Trankopfergerät und einem Augurenstab prägen!«
»Aber hat nicht der herodäische Fürst Philippus auf seinen Münzen einen heidnischen Tempel abgebildet? Und trotzdem genießt er hohes Ansehen!«
»Bei den Herodäem wissen wir, woran wir sind. Aber Pilatus war uns unbekannt. Der Verdacht entstand, er verfolge bewußt ein Programm, heidnische Bräuche und Symbole in unserem Land einzuführen.«
»Er will nur, daß man heidnische Bräuche und Symbole von Nichtjuden auch in diesem Land toleriert – nicht mehr!«
»Aber warum geht er so provokativ vor? Warum läßt er heimlich in der Nacht Kaiserbilder nach Jerusalem bringen – Bilder in die Stadt des bilderlosen Gottes? Gut, er mußte sie auf unsere Proteste hin zurückziehen. Hat er daraus gelernt? Nein! Er versuchte dasselbe noch einmal mit Schildern, auf denen der Name des Kaisers eingraviert war! Warum tut er das? Warum verletzt er das, was uns so wertvoll ist?«
Metilius schien durchaus Verständnis für meine Argumente zu haben. Aber er war hartnäckig. »Warum aber gab es diese Proteste gegen den Plan, Tempelgeld für ein Aquaedukt zu verwenden? Was haben wir hier falsch gemacht?«
»Die Sache mit dem Aquaedukt wäre unter normalen Umständen gut gegangen. Aber nun war einmal das Mißtrauen da. Jeden Tag wird es durch Münzen bestätigt, die durch unsere Hände gehen. Dies Mißtrauen muß beseitigt werden. Das ist die wichtigste Aufgabe!«
Ich wagte nicht auszusprechen, daß es dazu wohl nur einen Weg gab: Pilatus abzuberufen. Er hatte zu viel Vertrauen zerstört. Aber die Schlußfolgerung mußte ich Metilius selbst überlassen. Metilius rollte das Problem noch einmal von einer anderen Seite auf:
»Wenn ich recht sehe, hängen unsere Probleme mit dem Tempel zusammen. Wir verletzen seine Heiligkeit in den Augen vieler Juden. Versuch aber einmal die Sache aus unserer Sicht zu sehen: Wir wollen den Tempel ehren – wie wir alle Tempel in der Welt ehren. Überall geschieht das in der Weise, daß der Statthalter einer Provinz demonstrativ dem jeweiligen Landesgott opfert. Er beteiligt sich am Kult. Er wird aufgenommen in den Kreis der Verehrer des Gottes. Warum geht das bei euch nur begrenzt? Warum laßt ihr niemanden in den Tempel, wenn er nicht ein Jude ist? Alle anderen Götter sehen es gerne, wenn Fremde ihnen auf ihren Altären Opfer bringen! Nur euer Gott ist so wenig gastfreundlich!«97
»Unser Gott verlangt nicht nur Opfer und Weihegeschenke. Nur wer seine Gebote im ganzen Leben ernst nimmt, darf ihm Opfer darbringen. Unsere Religion ist eng mit unserer gesamten Lebensführung verbunden. Und das gibt es anderswo nicht. Die Götter der Völker verlangen nicht, daß man das ganze Leben nach ihrem Gebot ausrichtet. Sie nehmen von jedem ihre Opfer!«
»Aber ich sehe doch, daß ihr selbst die Gebote eures Gottes nicht konsequent erfüllen könnt! Auch ihr habt zu Hause so einen kleinen Götzen!«
»Wir wissen, daß wir die Gebote nie vollkommen erfüllen. Eben deswegen ist der Tempel so wichtig. Einmal im Jahr geht der Hohepriester ins Allerheiligste, um für alle Gebotsübertretungen in unserem Volk Gnade zu erlangen! Aber nicht nur das Volk als ganzes, jeder einzelne kann im Heiligtum durch Sühneopfer seine Übertretungen wiedergutmachen. Gerade weil wir die Gebote Gottes so ernst nehmen, sind wir auf den Tempel angewiesen. Ohne ihn gäbe es keine Versöhnung!«