Tholomäus und Susanna machten einen bedrückten Eindruck. Sie klagten: »Wir müssen jetzt alles allein machen!«
Ich blickte sie fragend an. Tholomäus erklärte:
»Drei kräftige Söhne hatten wir. Und jetzt sind sie nicht mehr da.«
»Wie schrecklich – sind sie gestorben?«
»Nein, sie leben. Aber sie sind weggelaufen, einfach auf und davon, und haben uns allein gelassen.«
»Hat es Streit gegeben?«
»Nicht im geringsten. Wir verstanden uns gut. Aber es laufen ja heute so viele weg!«
»Man kann nicht sagen, daß die jungen Leute schuld sind«, schaltete sich Susanna ein. »Der erste, der im Dorf verschwand, war unser Nachbar Eleazar. Plötzlich war er weg – mit Frau und Kindern.«
»Aber warum verschwinden die Leute?«
»Eleazar war ein kleiner Bauer, der recht kümmerlich von seinem Land lebte. Wir hatten vor einiger Zeit ein paar Jahre hintereinander schlechte Ernten. Eleazar mußte sein Saatgut essen, um nicht zu verhungern. Neues Saatgut war wegen der allgemeinen Getreideknappheit teuer. Wer jetzt Getreide übrig hatte, verdiente gut – aber den Ärmsten ging es noch schlechter als vorher. Eleazar geriet in Schulden. Er konnte sie nicht zurückzahlen. Was sollte er tun? Sollte er seine Kinder auf dem Sklavenmarkt in Tyros verkaufen, wie andere es getan hatten? Niemals! Sollte er sich und seine Familie an einen reicheren Juden verkaufen, um spätestens nach sieben Jahren freigelassen zu werden?99 Sollte er warten, bis seine Gläubiger ihn vor den Richter schleppten, um ihn in Schuldhaft zu nehmen? Um dann zuzusehen, wie seine Frau ins Elend geriet? Eleazar war ein selbstbewußter Mensch. Er bäumte sich gegen das drohende Elend auf. Er verschwand zusammen mit seiner Familie in die Berge.«
Ich wußte, was das hieß: Dorthin war auch Barabbas verschwunden, nachdem er Bannos verlassen hatte. Eleazar hatte sich den Zeloten angeschlossen. jeder in Galiläa wußte, wovon die Rede war. Und so sagte ich:
»Wie gut, daß Eleazar mit seiner ganzen Familie verschwunden ist. So kann niemand seinetwegen die Familie unter Druck setzen. Vor kurzem hörte ich von einem ähnlichen Fall aus Ägypten: 100 Ein armer Mann war im Rückstand mit Zahlungen und hatte aus Furcht vor Strafen das Weite gesucht. Daraufhin schleppte der Steuereinnehmer, dem er das Geld schuldete, seine Frau, Kinder, Eltern und Verwandte gewaltsam fort. Er schlug und mißhandelte sie, damit sie den Flüchtling verrieten oder dessen Rückstände bezahlten. Aber sie konnten weder das eine noch das andere. Denn sie wußten nicht, wo er sich aufhielt, und sie waren genauso arm wie der Flüchtling. Der Steuereinnehmer aber ließ sie nicht frei, sondern folterte sie und brachte sie auf qualvolle Weise ums Leben. Er befestigte einen mit Sand gefüllten Korb an Stricken, hing ihnen diese schwere Last um den Nacken und stellte sie unter freiem Himmel auf offenem Markte hin, damit sie, durch Wind und Sonnenbrand, durch die öffentliche Schande und die aufgebürdeten Lasten zur Verzweiflung gebracht würden. Für die anderen, die das mit ansehen mußten, sollten sie ein abschreckendes Beispiel sein. Einige von den Verschuldeten haben sich in der Tat durch Schwert oder Gift oder Strang selbst das Leben genommen, da der Tod ohne Folterqualen ihnen wie ein Glück im Unglück erschien. Die aber, die nicht Hand an sich gelegt hatten, wurden der Reihe nach, wie bei Erbschaftsprozessen, herangeholt, zuerst die Nächstverwandten und nach ihnen die Verwandten zweiten und dritten Grades bis zu den entferntesten; und als von den Verwandten keiner mehr übrig war, schritt man weiter zu den Nachbarn. Ganze Dörfer und Städte haben so ihre Einwohner verloren und eingebüßt, weil alle fortzogen, um sich versteckt zu halten.«
Das Ehepaar hatte mir aufmerksam zugehört: »Wenn das hier bei uns so weiter geht, werden auch hier bald die Dörfer leer sein – wie in einigen Gegenden Ägyptens. Noch mehr werden verschwinden, so wie Eleazar verschwunden ist.«
Ich wagte eine weitere Frage: »Sind eure Söhne aus solchen Gründen verschwunden?«
»Die Gründe waren anders«, erklärte Tholomäus. "Wir sind arm; aber wir sind bisher durchgekommen. Unsere Söhne hätten bleiben können. Aber unser Nachbar Eleazar wirkte als Vorbild. Er hat jedem im Dorf gezeigt: Es gibt einen Ausweg, wenn man nicht weiterweiß.«
Susanna pflichtete bei: »Ohne das Vorbild von Eleazar hätten sich unsere Söhne vielleicht mit vielem abgefunden. Aber von jetzt ab handelten sie im Bewußtsein, daß sie nicht alles schlukken mußten.«
Tholomäus setzte fort: »Als erster verschwand unser ältester Sohn Philippus. Er hatte zusammen mit anderen aus unserem Dorf mit einem Großgrundbesitzer einen Pachtvertrag abgeschlossen: Vom Ertrag des gepachteten Landes mußten sie die Hälfte an den Besitzer abliefern, während die andere Hälfte ihr Eigentum war. Davon konnten sie schlecht und recht leben. Nun muß man wissen, daß der Besitzer weit weg in Ptolemais an der Mittelmeerküste wohnt und seine Besitzungen durch einen Aufseher verwalten läßt. Jedes Jahr kommt ein Abgesandter aus Ptolemais, um die Hälfte der Ernte abzuholen. Dabei gibt es oft Streit. Dem Besitzer ist gleichgültig, wie groß die Ernte ist – Hauptsache, er verdient daran. Wenn er zu einem günstigen und frühen Zeitpunkt verkauft, kann er manchmal mehr verdienen, als wenn er das Getreide ausreifen läßt und der ganze Markt von Getreideprodukten überschwemmt wird. Bei einer frühen Ernte sind die Preise viel höher. Die Pächter sind dagegen an einer möglichst großen Ernte interessiert. Denn sie müssen von ihr leben. Sie wollen erst spät ernten. Sie schickten daher den ersten Abgesandten mit leeren Taschen zurück. Der Besitzer sandte zwei andere mit Drohungen: Wenn sie nicht sofort die Ernteerträge ablieferten, würde er sie vor Gericht bringen und ruinieren. Philippus und seine Mitpächter waren aufgebracht. Sie haben die beiden Abgesandten verprügelt und aus unserem Dorf vertrieben 101Jetzt konnten sie erst recht vor Gericht angeklagt werden. Was sollten sie tun? Das Gericht in Ptolemais hätte immer dem Besitzer recht gegeben, zumal wenn ein Städter gegen Leute vom Land prozessiert. Es blieb nur eine Möglichkeit: sie verschwanden in die Berge.«
»Auch ich habe Freunde, die in die Berge verschwunden sind«, sagte ich. Dabei dachte ich an Barabbas, der zwar nicht aus Not, aber aus Überzeugung Zelot geworden war.
Tholomäus schaute mich dankbar an, weil ich seinen Sohn nicht verurteilte: »Viele halten die in den Bergen für Banditen. Aber es sind nur Menschen, die aus Verzweiflung keinen Ausweg wußten. Eleazar und Philippus sind gute Menschen.«
Seine Frau ergriff das Wort: »Nicht alle gehen in die Berge. Bei unserem zweiten Sohn Jason war es anders. Um existieren zu können, müssen wir neben der Bebauung unseres Landes immer wieder Gelegenheitsarbeiten übernehmen – als Saisonarbeiter und Tagelöhner. Jason ging darum oft auf den Marktplatz, wo sich alle sammeln, die Arbeit suchen.102 Dort heuern die reichen Bauern und Verwalter die Leute an, die sie brauchen. Manchmal war es eine entsetzliche Warterei, und er stand oft den ganzen Tag herum, ohne Beschäftigung zu finden – und wurde dann auch noch ›Faulenzer‹ genannt. Dabei hätte er nichts lieber getan als arbeiten. Wenn er mit den anderen Arbeitslosen zusammenstand, erzählten sie sich von den großen Städten, in denen es mehr Möglichkeiten gab. Je weniger sie hier Arbeit fanden, um so mehr träumten sie davon. Auch Jason sah hier keine Chancen mehr. Er wußte, er würde einmal einen Teil unseres Landes erben – aber das würde viel zuwenig sein, um eine Familie zu ernähren. Eines Tages brach er auf, um nach Alexandrien zu ziehen. Letztes Jahr hat er uns geschrieben, es ginge ihm gut. Wenn er zu Geld gekommen wäre, würde er uns besuchen. Aber jetzt ginge es nicht.«