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Tholomäus nickte: »Ob sich die jungen Leute da nicht einen Wunschtraum zurechtgelegt haben: Sie erzählen immer nur von denen, die im Ausland zu Reichtum und Ansehen gekommen sind. Von den vielen anderen hören sie nichts.«

Susanna fuhr fort: »Aber es ist immer noch besser, ins Ausland zu gehen, als hier verrückt zu werden. Wenn du unser Dorf verläßt, wirst du ein paar irrsinnigen Bettlern begegnen. Auch sie haben einmal Haus und Hof besessen. Als sie in Not gerieten, haben sie den Verstand verloren. Sie sind besessen. Ein Dämon ist in sie gefahren. Jetzt lungern sie in Gräbern und an Wegen herum. Meist sterben sie recht bald. Bis dahin ernähren sie sich kümmerlich von den Spenden ihrer alten Bekannten im Dorf. Gott sei Dank, daß keiner unserer Söhne verrückt geworden ist. Aber beinahe hätte ich den Verstand verloren, als unser letzter Sohn uns verließ.«

Der Frau standen Tränen in den Augen. Ich schaute fragend Tholomäus an. Der erklärte:

»Das Schlimmste war, daß auch Bartholomäus uns verließ. Meine Frau kann es immer noch nicht fassen.«

»Aber warum ging der denn? Nachdem die beiden anderen weg waren, hätte er doch gut von eurem Land eine kleine Familie ernähren können!«

»Eben deswegen ist alles so unbegreiflich«, sagte Susanna. »Die anderen gingen aus Not. Sie waren in einer Zwangslage. Aber der Letzte hätte bleiben können. Wenigstens einer hätte bei seinen Eltern bleiben müssen!«

Tholomäus sagte leise: »Er kommt bestimmt wieder. Er war schon einmal zu Besuch. Es ist richtig: Er ging nicht aus nackter Not. Aber auch er wurde von einer Art Not getrieben. Bartholomäus war ein sensibler Junge. Er war mit unseren Nachbarkindern, den Söhnen des Eleazar, befreundet. Er hat es nie fassen können, warum sie sogenannte ›Banditen‹ werden mußten. Er hat darunter gelitten. Es war für ihn ein zweiter Schock, als seine Brüder uns verließen. Er zweifelte an dieser Welt, die so ungerecht eingerichtet ist. Er wußte: Das konnte nicht so weitergehen. Die Reichen können nicht immer die Armen verdrängen, die Richter können nicht immer die Großen begünstigen, die Fremden nicht immer das Land unterdrücken. Es muß einmal anders werden. Das Unrecht auf Erden schreit zum Himmel. Gott sieht und hört alles. Er wird nicht zulassen, daß es so weitergeht. Er wird eine Wende herbeiführen und dafür sorgen, daß alle satt werden, daß die jungen Leute einen Platz auf dieser Welt haben, daß die Reichen abgeben müssen und die Unterdrücker die Macht verlieren. Gott selbst wird die Herrschaft übernehmen!«

»Viele erwarten die Herrschaft Gottes«, sagte ich. »Aber deswegen verlassen sie nicht ihre Eltern.«

»Das ist es eben!« sagte Tholomäus. »Er hat es auch nicht von selbst getan. Einer aus unserem Dorf hat ihn überredet. Er heißt Jesus. Er zieht durch das Land und verkündet, die Herrschaft Gottes beginne schon jetzt. Man müsse nicht bis in ferne Zeiten warten, bis alles anders würde. Die große Wende sei schon im Gange. Sie sei das Wichtigste in der Welt – wichtiger als Arbeit und Familie, wichtiger als Vater und Mutter. Bartholomäus hat mir bei seinem Besuch einige Worte Jesu gesagt. Es sind schöne Worte:

Glücklich seid ihr Armen, denn euch gehört die

Herrschaft Gottes!

Glücklich seid ihr, die ihr jetzt hungert, denn

ihr werdet satt werden!

Glücklich seid ihr, die ihr jetzt weint, denn ihr

werdet lachen?103

Mit diesen Worten zieht Jesus durchs Land und sagt einigen jungen Leuten, die es hier nicht mehr aushalten: Folgt mir nach! Es wird anders werden. Die Armen werden nicht mehr arm sein, die Hungernden nicht mehr hungern, die Weinenden nicht mehr weinen.«

Da schaltete sich Susanna ein. Sie war sichtlich erregt: »Dieser Jesus ist ein schlimmer Verführer. Er verdirbt die jungen Leute. Das klingt ja so schön: Glücklich seid ihr Weinenden, denn ihr werdet lachen! Aber was bewirkt er tatsächlich? Er bewirkt, daß Eltern über ihre verlorenen Söhne weinen. Er verheißt, alles würde anders. Was aber verändert er tatsächlich? Daß Familien zerstört werden, weil Kinder ihren Eltern weglaufen.«

Tholomäus verteidigte seinen Sohn: »Ist es nicht besser, er läuft diesem Jesus nach, als daß er in die Berge verschwindet? Ist es nicht besser, er lebt mit einer neuen Hoffnung, als daß er den Verstand verliert? Und ist es nicht besser, er bleibt in Galiläa, anstatt ins Ausland zu ziehen? Er kann jederzeit wiederkommen. Ich habe die Hoffnung nicht verloren.«

Susanna widersprach: »Warum will er nicht bei uns bleiben!« Tholomäus wandte seinen Blick ab. Er wollte vor einem Fremden nicht darüber diskutieren. Doch Susanna war in Fahrt geraten. Voller Empörung rief sie: »Als er hier war, habe ich ihn hart zur Rede gestellt. Ich habe ihm gesagt: Was du tust, ist unmoralisch. Wir werden alt. Wir haben euch Kinder aufgezogen. Und jetzt laßt ihr uns im Stich. Wißt ihr, was er mir gesagt hat? Einmal sei zu seinem Meister jemand gekommen, der ihm nachfolgen, aber zuerst seinen verstorbenen Vater beerdigen wollte. Jesus habe ihm gesagt: ›Laß doch die Toten ihre Toten begraben!‹104 und ihn aufgefordert, ihm unmittelbar nachzufolgen. Ist das nicht unmenschlich: Gelten denn Eltern überhaupt nichts mehr? Sind wir Eltern nur so viel wert wie Kadaver von Tieren, die man nicht beerdigen muß?

Da kam er mit einem anderen Spruch Jesu, der nicht weniger abstoßend ist:

Wenn jemand zu mir kommt

und haßt nicht seinen Vater und seine Mutter,

seine Frau und seine Kinder,

seine Brüder und seine Schwestern

dazu sein eigenes Leben,

dann kann er nicht mein jünger sein!105

Was gilt denn noch im Leben, wenn man sich nicht auf seine Familienangehörigen verlassen kann? Daß diese jungen Leute uns im Stich lassen, ist traurig. Daß sie es mit solchen Parolen begründen, ist entsetzlich!«

Ich fragte: »Dieser Jesus stammt doch aus eurem Dorf. Was sagen denn seine Angehörigen zu solchen Lehren?«

Susanna lachte: »Die halten ihn für verrückt! Einmal wollten sie ihn mit Gewalt nach Hause zurückbringen. Aber sie konnten nicht an ihn heran. Zu viele Zuhörer waren um ihn herum. Da ließen sie ihm bestellen: Deine Mutter und deine Brüder sind da, sie wollen dich sprechen. Was antwortete er? Er fragte: ›Wer ist meine Mutter? Wer sind meine Brüder?‹ Dann zeigte er auf seine Zuhörer und fügte hinzu: ›Wer den Willen Gottes tut, ist mein Bruder, meine Schwester und meine Mutter!‹106

Susanna brach in Schluchzen aus. Tholomäus legte einen Arm um sie und streichelte sanft ihr Haar. Auch er hatte Tränen in den Augen.

Timon und Malchos waren inzwischen fertig und mahnten zum Aufbruch. Wir wollten vor Sonnenuntergang in Sepphoris zurück sein. So verabschiedeten wir uns.

In der Tat: Dieser Jesus hatte abstoßende Züge! Manches an ihm erinnerte an die Essener. Hier wie dort die unheimliche Macht über junge Menschen, der radikale Bruch mit der Umwelt, die Verachtung des Reichtums! Hier wie dort die Hoffnung auf die große Wende! Und doch war da ein großer Unterschied: Hinter Jesus stand keine gut organisierte Gemeinde mit verborgenen Schätzen! Er bot kein Haus, keine Sicherheit. Er bot gar nichts. Er zog auch nicht in die Wüste, sondern wanderte im Land herum. Angeblich hielt er sich meistens in der Nähe des Sees Genezareth auf, zwischen Kapernaum und Bethsaida. Wenn ich ihm einmal begegnete, solle ich Bartholomäus grüßen, hatte mir Susanna beim Abschied aufgetragen.

Ob Jesus ein Sicherheitsrisiko für den Staat war, konnte ich nicht beurteilen – für die Familien in Nazareth war er sicher ein Risiko. Mir fiel ein altes Prophetenorakel über die Endzeit ein: »Der Sohn verachtet den Vater, die Tochter setzt sich wider die Mutter, die Schwiegertochter wider die Schwiegermutter, und des Menschen Feinde sind die eigenen Hausgenossen.«107 Sollte dies Wort über die Spaltung der Familien jetzt in Erfüllung gehen?