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Sehr geehrter Herr Kratzinger,

 

meiner These einer Zuordnung Jesu zu den unteren Schichten setzen Sie noch einmal eine grundsätzliche historische Skepsis entgegen. Wir wüßten zu wenig von Jesus, um ihn sozial einordnen zu können. Anders als bei Pilatus gebe es keine außerbiblischen Quellen, nur ein paar Notizen bei antiken Schriftstellern, die aber nach Ansicht der meisten Gelehrten nichts von Bedeutung über ihn sagen.

Wir sind darin einig, daß der große Jesusabschnitt bei Josephus (ant 18,63f = XVIII,3,3) christlich überarbeitet, vielleicht sogar interpoliert ist. Für unverdächtig halte ich den Bericht des Josephus über die Hinrichtung des Herrenbruders Jakobus im Jahr 62 n.Chr. (ant 20,197-203 = XX,9,1). Josephus spricht hier von »Jesus, der Christus genannt wurde«. Unverdächtig ist auch die Stelle bei Tacitus über die »Chrestianer«, die Nero für den Brand in Rom im Jahr 64 n.Chr. verantwortlich machte. Tacitus leitet ihren Namen von »Christus« ab und weiß zu berichten, daß er »unter der Herrschaft des Tiberius auf Veranlassung des Prokurators Pontius Pilatus hingerichtet worden ist« (ann XV,44,3).

Wir können diesen Notizen entnehmen, daß Jesus mit den herrschenden Schichten in Konflikt geraten ist. Ein römischer Statthalter ist für seinen Tod verantwortlich. Die jüdische Aristokratie verfolgt später seine Anhänger. Auch Sueton (Claudius 25) und Plinius d.J. (ep. X,96) erwähnen Jesus anläßlich von Konflikten seiner Anhänger mit den Behörden.

Sagen diese Quellen wirklich nichts von Bedeutung? Sie sagen, daß Jesus mit großer Wahrscheinlichkeit nicht zur Oberschicht gehörte und daß nicht »die Juden«, sondern ein römischer Beamter für seine Hinrichtung verantwortlich ist. Die Geschichte des Christentums sähe anders aus, wäre beides immer bewußt gewesen. Diese wenigen antiken Quellen sagen viel über Jesus – viel aber auch über historisch-kritische Exegeten, denen sie so wenig sagen!

Die Frage der sozialen Zuordnung Jesu wird für die weitere Erzählung noch wichtig sein. Ob ich Sie doch noch von meiner Sicht der Dinge überzeugen kann?

 

Mit herzlichen Grüßen

bin ich

Ihr

Gerd Theißen

9. KAPITEL

In den Höhlen von Arbela

Ich nahm die nächste Gelegenheit wahr, um eine Geschäftsreise von Sepphoris nach Bethsaida Julias zu machen. Zusammen mit Timon und Malchos zog ich durch die Ebene von Asochis in Richtung See Genezareth. Auf dem Rückweg wollte ich in Tiberias Johanna und Chusa besuchen.

Ich hoffte, irgendwo am Nordufer des Sees Jesus zu treffen oder wenigstens Spuren von ihm zu finden. Doch ich brannte keineswegs darauf, ihn kennenzulernen. Wir würden uns wahrscheinlich fremd sein. Kamen wir doch aus verschiedenen Welten: ich aus einer begüterten Familie, die in der modernsten Stadt Galiläas wohnte – er aus kleinen Verhältnissen in einem unbedeutenden Dorf. In meinen Ohren klangen noch seine schroffen und unversöhnlichen Aussprüche, die mir Tholomäus mitgeteilt hatte:

»Eher kommt ein Kamel durch ein Nadelöhr,

als ein Reicher in die Gottesherrschaft.«108

»Niemand kann zwei Herren dienen.

Denn er wird entweder den einen hassen

und den anderen lieben,

oder er wird dem einen treu sein

und den anderen verachten.

Ihr könnt nicht zugleich Gott dienen und dem Besitz.«109

»Weh euch Reichen,

denn ihr habt euren Anteil schon empfangen.«110

Sprach nicht aus solchen Sprüchen die Verachtung der armen Landbevölkerung gegen die reichen Städter? Wenn man selbst reich war, hörte man solche Worte mit gemischten Gefühlen. War Jesus einer von denen, welche die Not einfacher Leute ausnutzten, um Unruhe zu stiften? Die den Haß gegen die Reichen schürten? Die unrealistische Hoffnungen weckten, alles würde anders werden, wenn man den Reichen ihren Besitz wegnähme und die Mächtigen entmachtete? Verständlich, daß ihm die jungen Leute aus bedrückenden Verhältnissen nachliefen!

So trottete ich in Gedanken versunken auf der Straße von Sepphoris nach Bethsaida. Es war ein schöner Tag. Die grüne Landschaft strahlte im Sonnenlicht. Auf den Hügeln flimmerten die Terrassierungen als Muster parallel gemalter Striche. Obstbäume mischten schattige Flecken in die Helligkeit. Dies Galiläa war ein wunderbares Land – ein Land, in dem alle Menschen genug zu essen haben könnten.111 Sollte dies Land nicht für alle da sein? Konnte man hier nicht tatsächlich auf den Gedanken kommen, daß Not und Elend nicht zur Schöpfung gehören müssen?

Schöpfer der Welt,

unendlich groß bist du,

umhüllt von Schönheit

und umströmt von Licht.

Spürbar bist du im Rätsel der Zeit,

und im Geheimnis des Raums.

Offenbar in den Wundern der Welt

und verborgen im Leid der Geschöpfe.

Du schläfst im Stein

und träumst in der Blume.

Du regst dich im Tier

und sprichst zum Menschen.

Licht verwandelst du in Leben

und Regen in Wachstum,

Korn und Wein läßt du wachsen

für alle Menschen,

für Arme und Reiche,

Schwarze und Weiße.

Herr, dein ist die Erde,

dein Garten, den du uns gabst.112

Es war wirklich ein herrlicher Tag. Und es wäre ein herrlicher Tag geblieben, wenn nicht plötzlich ein lauter Schrei mich aus meinen Gedanken gerissen hätte. Alles ging unheimlich schnell. Eine Horde bewaffneter Männer stürmte auf uns los. Etwa fünfzehn gegen uns drei. Wir hatten keine Chance. Ehe wir den Gedanken an Widerstand fassen konnten, waren wir überrumpelt, wurden von unseren Eseln gezerrt, an den Händen gefesselt und mit verbundenen Augen auf einem Pfad den Berg hochgetrieben.

Die Angst war wieder da. Mein Herz klopfte zum Zerspringen. Kalter Schweiß brach aus allen Poren, die Muskeln verkrampften sich. Was hatten diese Verbrecher mit uns vor? Waren es gewöhnliche Räuber? Warum nahmen sie uns dann nicht alles Geld ab und ließen uns laufen? Sie unterhielten sich nur in kurzen Zurufen. Nichts enthüllte Sinn und Ziel ihres Überfalls. Ich versuchte, sie anzusprechen. Aber sie reagierten nicht.

Drei Stunden lang ging es durchs Gebirge. Ich merkte, daß wir in die Höhe kamen. Der Weg wurde steiniger. Plötzlich machten wir halt. Jemand sagte: »Ihr müßt jetzt eine schmale Treppe und einige Leitern hinuntersteigen. Vorsicht! Ein Fehltritt kann das Leben kosten! Wir klettern an einem Abgrund entlang.« Auch jetzt erlaubten sie nicht, daß uns die Augenbinden abgenommen wurden. Wir sollten keine Chance haben, zu sehen, wo wir uns befanden. Der Weg war von oben teils in Stein gehauen, teils durch bewegliche Leitern gebahnt. Langsam tasteten wir uns voran. Unsere Begleiter sagten uns bei schwierigen Stellen, wo wir unsere Füße hinsetzen sollten. Zwischendurch durchfuhr mich der Gedanke: Wenn sie mich loshaben wollten, brauchten sie mir nur einen Stoß zu geben.