Endlich hatten wir wieder festen Boden unter den Füßen. Wir mußten uns klein machen, um durch eine enge Öffnung zu kriechen. Man trennte uns. Ich hörte, wie Timon, Malchos und einige Begleiter sich in anderer Richtung entfernten. Ich wurde hin und her gedreht, bis ich jede Orientierung verloren hatte. Dann wurde mir die Augenbinde abgenommen. Ich stand in einem dunklen Raum, der von einem Öllämpchen schwach erhellt wurde. Die Wände waren aus Felsen. Geräusche verrieten, daß irgendwo noch andere Menschen waren. Aber zunächst wurde ich allein gelassen – nicht ohne daß man mir zuvor die Füße gebunden hatte.
Mir kam ein Gedanke: die Höhlen von Arbela! Dies konnten sie sein. Hier hatten schon immer Widerstandskämpfer ihre Schlupfwinkel gehabt. Mein Vater hatte mir oft erzählt, wie der große König Herodes gegen sie gekämpft hatte. Es war eine schaurige Geschichte. Ich hörte in meinem Innern seine Stimme, wie er sie erzählte:113
»Die Höhlen von Arbela lagen in steilen Bergabhängen und waren von nirgends her unmittelbar zugänglich; sie hatten nur schräge, sehr enge Einstiegsmöglichkeiten. Die Felsmasse, an der sich ihre Eingänge befanden, fiel in sehr tiefe Schluchten ab, steil und zerklüftet. Herodes war deshalb lange Zeit infolge der Unzugänglichkeit des Geländes in Verlegenheit, schließlich kam er auf einen sehr gefährlichen Einfall. Er befahl, die stärksten Leute sollten in Kästen an Seilen herabgelassen werden. So verschaffte er ihnen Zugang zu den Höhlen. Die Soldaten schleuderten Feuerbrände auf alle, die sich zur Wehr setzten, und machten sie samt ihren Familien nieder. Herodes wollte einige von ihnen am Leben erhalten und ließ ihnen sagen, sie sollten zu ihm heraufkommen. Niemand aber ergab sich freiwillig. Viele zogen den Tod der Gefangenschaft vor. Unter den Widerstandskämpfern befand sich auch ein alter Mann mit sieben Söhnen. Den baten seine Frau und die Söhne um Erlaubnis, auf die Zusage der Begnadigung hin die Höhle zu verlassen. Da tötete er sie auf folgende Weise: Er befahl ihnen, einzeln herauszukommen, stellte sich selbst an den Eingang der Höhle und stieß jeden seiner Söhne, wie er hervorkam, nieder. Herodes, der das von fern sah, wurde von Mitleid ergriffen, streckte dem alten Mann seine Rechte entgegen und redete ihm zu, seine Söhne doch zu schonen. Auf den machten diese Worte aber keinen Eindruck, im Gegenteil, er beleidigte den Herodes wegen seiner niedrigen Herkunft, tötete außer den Söhnen auch noch seine Frau, warf die Leichen in den Abgrund und stürzte sich selbst hinterher.«
Und jetzt saß ich in diesen Höhlen von Arbela! Wir waren Fanatikern in die Hände gefallen! Wer bereit war, seine eigenen Kinder zu töten, wird jeden töten, wenn seine Überzeugung es verlangt. Hätte dieser fanatische Alte nicht auch das Jesuswort sagen können: »Wer nicht seinen Vater und seine Mutter, seine Frau und seine Kinder haßt..., der kann nicht mein Jünger sein.«? Ob dieser Jesus nicht doch ein Zelot war? Nur daß er sich nicht in Höhlen versteckte, sondern öffentlich lehrte und deshalb seine aufrührerische Botschaft nicht ganz so deutlich vertrat?
Ich hörte Schritte. Ein schwacher Lichtschein ließ ungenaue Schatten über die Felswand huschen. Ein Mann kam auf mich zu. Er trug eine Öllampe, die er so abschirmte, daß ich sein Gesicht nicht erkennen konnte. Er erklärte:
»Du bist so lange unser Gefangener, bis deine Familie Lösegeld für dich zahlt. Wir haben euer Gepäck durchsucht. Ihr seid reiche Leute. Wir verlangen ein halbes Talent Silber – zahlbar bis in dreißig Tagen. Deine beiden Sklaven werden wir mit einer entsprechenden Botschaft nach Hause schicken. Du wirst jetzt einen Brief mit unseren Forderungen schreiben!«
Ich wagte Widerspruch: »Und wenn meine Familie nicht zahlt? Ein halbes Talent Silber ist viel Geld!«
Der andere entgegnete ruhig: »Auch das wird für deine Familie teuer: Ein Begräbnis kostet eine Menge. Für die Leiche sorgen wir.«
»Und wenn ich den Brief nicht schreibe?«
»Dann gibt es drei Begräbnisse.«
»Wollt ihr uns wirklich wegen Geld umbringen?«
»Ich habe Befehl, mit dir über nichts zu diskutieren. Schreib den Brief! Es liegt bei dir, daß alles gut endet.«
Die Worte trafen mich wie Peitschenhiebe. Ich konnte nur eins: meinen Haß der eisigen Kälte meiner Entführer entgegensetzen. In diesem Augenblick hörten sie auf, für mich Menschen zu sein. Sie verwandelten sich in Teufel und Tiere. Nur die Erinnerung an die Geschichte vom alten Mann und seinen sieben Söhnen bildete ein schwaches Gegengewicht. Einmal hatte ich diesen Mann als Helden bewundert! Waren unsere Entführer von demselben mitleidlosen Heldenmut geprägt? Der Gedanke ließ mich noch einmal einen Versuch wagen, ein Gespräch anzufangen:
»Warum macht ihr das alles?«
Aber der andere fuhr mich sofort an: »Kein Wort jetzt! Schreib!«
Stumm löste er meine Handfesseln. Ich erhielt ein Papyrusblatt, Feder, Tinte und ein kleines Schreibpult. Während ich Vorbereitungen zum Schreiben traf, überlegte ich angestrengt: Sollte ich nach Barabbas fragen? Ich wußte, daß die Zeloten oft in rivalisierende Gruppen zerfielen. Wenn nun Barabbas einer anderen Gruppe angehörte? Oder wenn er die Zeloten schon verlassen hatte und als Verräter galt? Nein, ich konnte vom Regen in die Traufe kommen, wenn ich jetzt voreilig meine wenigen Chancen verspielte. Also schrieb ich den Brief:
Andreas grüßt seinen Vater und seine Mutter! Ich hoffe, es geht euch gut. Ich denke immer an euch. Leider bin ich wieder in großes Unglück geraten. Heute wurde ich von Räubern entführt. Sie verlangen als Lösegeld 1/2 Talent Silber und geben euch 30 Tage Zeit, um es aufzutreiben. Sie haben gedroht, mich und die anderen umzubringen. Seid trotzdem zuversichtlich: Ich bin den Gefängnissen der Römer entronnen, so werde ich auch dieser Gefangenschaft entrinnen.
Grüße an Baruch!
Timon und Malchos werden diesen Brief überbringen.
Friede sei mit euch allen!
Sie würden den Brief bestimmt lesen, dachte ich, ehe sie ihn abschickten. Wenn sie erst einmal wußten, daß ich vor kurzem von Pilatus inhaftiert worden war – dann mußten sie entgegenkommender werden! Ich reichte das Papyrusblatt meinem finster dasitzenden Bewacher. Er nahm den Brief, ohne hineinzuschauen. Ob er überhaupt lesen konnte? Ich war enttäuscht. Bevor er wegging, fesselte er meine Hände. Dann hörte ich, wie er im Labyrinth der Gänge verschwand. Ich war allein.
Ich grübelte: Waren das die jungen Leute, die aus den galiläischen Dörfern verschwunden waren? Waren das Leute wie Eleazar und Philippus, die einmal Unrecht erfahren hatten? Und die jetzt selbst Unrecht taten? Was war mit ihnen geschehen, daß sie kaltblütig unschuldige Menschen mit Mord bedrohen konnten – auf Befehl von oben, mit ruhiger Stimme, als ginge es um das Selbstverständlichste in der Welt?
Noch als ich vor ein paar Tagen bei Tholomäus war, hatte ich Verständnis und Sympathie für die Zeloten empfunden: Wer sich gegen eine aussichtslose Lage auflehnt, verdient unsere Anerkennung. Aber jetzt merkte ich, wie Anerkennung und Sympathie in Nichts zerfallen waren. Wenn man mit gefesselten Händen und Beinen in ihren Höhlen saß und einem ungewissen Schicksal entgegensah, verging alle Bewunderung für den Heldenmut der Widerstandskämpfer. Da kam Verachtung hoch – Verachtung wie gegenüber Pilatus. Da war die Angst, hilflos einem Mächtigen auf Leben und Tod ausgeliefert zu sein. Da war die Erbitterung über die schamlose Ausnutzung der Abhängigkeit: Hatte Pilatus nicht genauso erpreßt und gedroht, nur etwas geschickter, etwas feiner? Hatte er nicht genauso seine Macht ausgespielt? Wo lag eigentlich der Unterschied?
Ich schloß die Augen: Vor mir tauchten noch einmal Bilder aus Galiläa auf: die wunderbare Helligkeit der Täler und Hügel – die Sonne in der klaren Luft. Wie schön war das alles gewesen. Aber wie abscheulich war das, was unter der Sonne geschah – wie sich die Menschen da ausbeuteten und ausnutzten, erpreßten und mißbrauchten und bedrohten. Und über all dem ging die Sonne auf und unter, als kümmerte sie das nicht. Alte Worte fielen mir ein: