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»Ich wandte mich und sah an alles Unrecht, das unter der Sonne geschah; und siehe, da waren Tränen derer, die Unrecht litten und sie hatten keinen Tröster; und die ihnen Unrecht taten, waren zu mächtig, daßsie keinen Tröster haben konnten. Da lobte ich die Toten, die schon gestorben waren mehr denn die Lebendigen, die noch das Leben hatten; und besser denn alle beide ist, der noch nicht des Bösen inneward, das unter der Sonne geschieht.«114

Vor meinen inneren Augen sah ich die Sonne. Wie schön wäre es, wenn ich sie wiedersehen dürfte.

 

Ich weiß nicht, wie lange ich in das schwache Licht der Öllampe gestarrt hatte. Es war ausländische Keramik, aus Tyros. Wahrscheinlich hatte sie ein phönizischer Handwerker hergestellt und ein galiläischer Händler nach Palästina gebracht. Vielleicht war er überfallen worden? Jetzt brannte das Öllämpchen in den Höhlen von Arbela – und meine Hoffnung mischte sich in das kleine, aber beständige Licht.

Wiederum näherten sich Schritte. Ich wurde von den Fesseln befreit und in einen Raum geführt. Mehrere Männer saßen im Kreis. Ihre Gesichter konnte ich nicht erkennen. Der Raum war nur schwach beleuchtet. Die Szene wirkte wie eine Gerichtsversammlung. Sollte ich verhört werden? Vor mir saß jemand erhöht, wohl der Vorsitzende. Er sprach mich an:

»Andreas, Sohn des Johannes. Stimmt es, daß die Römer dich verhaftet haben?«

Meine Rechnung war aufgegangen. Ich war erleichtert. Sie hatten den Brief gelesen und angebissen. Ich erzählte ausführlich von der Demonstration gegen Pilatus und schloß mit dem Gedanken, eigentlich sei es bei dieser Demonstration nicht um das Aquaedukt des Pilatus gegangen. Entscheidend war das Geld: Die Römer saugten durch Steuern unrechtmäßig das Land aus. Jetzt aber gingen sie dazu über, auch noch die allein rechtmäßigen Abgaben – die Abgaben an den Tempel – für sich zu beanspruchen. Dagegen müsse man sich wehren.

Der Vorsitzende wandte sich an einen Beisitzer: »Du warst bei der Demonstration. Kannst du die Aussage bestätigen?«

Der Angeredete bejahte. Zwar habe er mich bei der Demonstration nicht gesehen. Aber er habe gehört, daß zwei junge Leute aus Sepphoris unrechtmäßig inhaftiert worden seien. Nicht weil sie sich etwas zuschulden hätten kommen lassen, sondern weil sie als Römerfeinde bekannt waren.

Wieder ergriff der Vorsitzende das Wort:

»Weil du gegen die Römer bist, wollen wir auf ein Lösegeld verzichten. Aber wir brauchen einen Beweis dafür, daß du auf unserer Seite stehst. Die Römer erheben von uns Juden unrechtmäßig Steuern. Wir verlangen von dir und deiner Familie, daß ihr denselben Betrag, den ihr den Römern an Steuern zahlt, jedes Jahr an uns abliefert. Als Gegenleistung bieten wir an, in Zukunft eure Handelskarawanen und Sendboten ungeschoren passieren zu lassen. Das ist ein faires Angebot.«

In Wirklichkeit war es Erpressung. Aber was sollte ich tun? Man munkelte in ganz Galiläa von solchen Abmachungen. Räuber und Zeloten kassierten regelmäßig Zoll von Kaufleuten. Nur so konnte die Zahl der Überfälle verringert werden. Das Angebot war insofern »handelsüblich«. Nur der Preis war unverschämt hoch. Ich fing an zu feilschen:

»Die römischen Behörden nehmen nur von Juden unrechtmäßig Steuern, nicht von Heiden. Wir haben in Sepphoris einige heidnische Sklaven. Die dürfen nicht mitberechnet werden.«

Ich hütete mich zu sagen, daß Timon ein halbheidnischer Sklave war. Er gehörte zu jenen Leuten, die wir die »Gottesfürchtigen« nennen: Sie glauben an einen Gott und halten die zehn Gebote, nehmen am Synagogengottesdienst teil – aber sie lassen sich nicht beschneiden. Solange Timon in der Gewalt dieser Leute war, durfte das nicht bekannt werden. Denn man sagte den Zeloten nach, daß sie Leute vor die Entscheidung stellten: Tod oder Beschneidung! Wenn sie erst einmal der Meinung waren, daß jemand jüdischen Glaubens war.

Zu meiner Überraschung gingen die Zeloten auf mein Argument ein. Die ein, zwei heidnischen Sklaven sollten nicht mitberechnet werden. Ich ließ nicht locker:

»Wir zahlen in Galiläa die Steuern nicht direkt an die Römer, sondern an Herodes Antipas, der den Römern einen Teil weitergibt. Ein gewisser Anteil muß auch hier abgezogen werden. Herodes Antipas ist ein Jude. Er ist rechtmäßig unser Fürst.«

»Er ist Idumäer!« wurde geantwortet. »Die Herodäer haben die Herrschaft an sich gerissen.«

Nach einigem Hin und Her erreichte ich noch einmal einen kleinen Nachlaß, als ich versprach, hin und wieder Informationen zu liefern. Dabei konnte ich meine Scheininformation über bevorstehende Kontrollen im Grenzgebiet zwischen Ptolemais und Galiläa gut verkaufen. Ich merkte, wie ich während des Verhandelns sicherer wurde. Wenn Menschen anfangen, sich geschäftsmäßig zu verhalten, werden sie berechenbar. Ein schurkischer Kaufmann ist angenehmer als ein fanatischer Terrorist.

Am Ende sagte der Vorsitzende zufrieden:

»Das war ein gutes Geschäft – ein Geschäft, das auf gegenseitigen Interessen beruht.«

Ich setzte hinzu: »Und auf der Tatsache, daß ihr mich in diese Höhle verschleppt habt.«

Der Vorsitzende lachte: »Glaub mir, Andreas: Ich habe in einem langen Leben gelernt, daß die Menschen freiwillig nur schwer zu nützlichen Handlungen zu bewegen sind. Man muß da manchmal nachhelfen.«

Genau das hatte auch Pilatus gesagt.

Er unterbrach sich und fuhr ernst fort: »Noch eins: Wenn ihr euch an die Geschäftsbedingungen nicht haltet, erzählen wir in Cäsarea und anderswo, ihr wäret verdächtig, Beziehungen zu Terroristen zu haben. Das wird eurem Geschäft nicht gerade nutzen. Verstanden?« Dann lachte er wieder: »So, und jetzt wollen wir erst einmal essen und trinken.«

Es wurde gemütlicher. Timon und Malchos wurden gebracht. Viele Öllämpchen erhellten nun den Raum, so daß ich die Gesichter erkennen konnte. Die meisten waren so alt wie ich. Nur der Anführer war deutlich über dreißig Jahre. Doch wen sah ich da? Ich wollte meinen Augen nicht trauen. War das nicht Barabbas? Ja, das war er. Ich wollte auf ihn losstürzen. Aber der andere drehte sich unbeteiligt weg. Hatte ich mich geirrt? Ich wurde unsicher und wartete, bis ich den Fremden wieder unauffällig anblicken konnte. Nein, es konnte keinen Zweifel geben: Es war Barabbas. Wieder drehte er mir den Rücken zu. Mir dämmerte: Er wollte nicht, daß jemand von unserer Bekanntschaft erfuhr. Vielleicht waren noch nicht alle Gefahren überstanden? Ich war verwirrt. Aber ich ließ mir nichts anmerken, als er mich harmlos fragte:

»Wo bist du geboren?

Was ist dein Vater von Beruf?

Wieviel Geschwister hast du?«

Jetzt war ich sicher: Er wollte den Eindruck erwecken, daß ich ein Unbekannter war. Er mußte Gründe haben. Ich spielte mit. Als sich unsere Augen flüchtig trafen, merkte ich, daß sie mich freundlich anblickten, als wollte er mir bestätigen: Ich bin dein Freund. Meinen Körper durchströmte eine angenehme Wärme! Wie gut das tat, mitten in dieser Bande einen Freund zu haben. Jetzt konnte eigentlich nichts schiefgehen.

Es wurde verabredet, daß wir die Nacht in der Höhle verbrachten. Am nächsten Morgen sollten wir in aller Frühe aufbrechen. Dann legten sich alle schlafen. Ich erhielt zusammen mit Timon und Malchos einen eigenen Raum. Bald schon hörte ich die regelmäßigen Atemzüge der beiden Jungen.

Sehr geehrter Herr Kratzinger,

 

Sie stört, daß ich einen reichen Kaufmann zur Hauptgestalt meiner Erzählung gemacht habe, wo ich doch Jesus aus einer »Perspektive von unten« sehen will. Der Grund ist einfach: Wir können uns so mit Andreas identifizieren. Er lebt in Distanz zur sozialen Welt Jesu. Er lebt nicht ungebrochen in seinen religiösen Traditionen. Er ist (bisher) Jesus nie unmittelbar begegnet. Er ist ein »Forscher« auf den Spuren Jesu – durchaus einem historisch-kritischen Forscher vergleichbar.