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Andreas muß aufgrund verschiedener Überlieferungen ein Bild von Jesus rekonstruieren. Er muß Aussagen kombinieren und kritisch bewerten. Geschichtsschreibung beginnt ja damit, daß man nicht mehr schlicht behauptet: »So und so war es«, sondern: »Aufgrund dieser und jener Quellen möchte ich – vorbehaltlich besserer Einsicht – folgendes Bild der Ereignisse entwerfen.«

Andreas versucht, die mit Jesus verbundene Erneuerungsbewegung durch historische Analogien zu erhellen – genauso wie die Geschichtswissenschaft es tut. Immer wieder reflektiert er über Gemeinsamkeiten zwischen Jesus, den Zeloten und anderen religiösen Bewegungen im damaligen Palästina.

Er deckt Zusammenhänge auf, die nicht unmittelbar evident sind, z.B. die Zusammenhänge zwischen wirtschaftlicher Not, religiöser Unruhe und politischem Widerstand. Wie ein Historiker legt er ein Geflecht von Bedingungen und Wechselwirkungen offen.

Kritik, Analogie und Korrelation sind die Grundkategorien historischen Bewußtseins. Auch in den Nachforschungen des Andreas sind sie wirksam. Er ist deshalb kein Wissenschaftler. Dazu müßte er Rechenschaft über sein methodisches Vorgehen ablegen (was ich in diesen Briefen tue); ferner müßte er Behauptungen durch Angabe öffentlich zugänglicher Quellen überprüfbar machen (was in den Anmerkungen geschieht). Aber insgesamt verkörpert er das Abenteuer historisch-kritischer Forschung. Das gilt auch für Distanz und Nähe zum Gegenstand seiner Untersuchungen: Ein ungeliebter Forschungsauftrag verwandelt sich für ihn in eine existenzielle Auseinandersetzung. Der Forscher wird in die Sache hineingezogen, die er untersuchen soll.

Über die von Ihnen angeschnittenen politischen Fragen nächstes Mal! Das folgende Kapitel bringt dazu neue Gesichtspunkte.

 

Herzlich

Ihr

Gerd Theißen

10. KAPITEL

Terror und Feindesliebe

Langsam schlief ich ein. Ich wußte nicht, ob ich träumte oder im Halbschlaf phantasierte. Bilder vom vergangenen Tag schoben sich wirr durcheinander. Bald sah ich mich vor dem Tribunal der Zeloten. Bald stand ich vor Pilatus. Bald zog ich durch die sonnige Landschaft Galiläas. Dann wurde es wieder finster – und ich wußte nicht, ob ich im Jerusalemer Gefängnis saß oder in den Höhlen von Arbela. Aus dem Dunkeln tauchten Köpfe auf: Der Zelotenführer grinste mich an. Dann erschien Pilatus. Auch er grinste. Ihre Gesichter verwandelten sich. Ich hörte wieder das Knurren des wilden Tieres, sah riesige Zähne, Tatzen, die mich vernichten wollten. Schon spürte ich, wie sie sich auf mein Gesicht legten. -

Da wachte ich erschrocken auf. Jemand hatte mich berührt. Mich durchfuhr der Gedanke: Sie wollen mich umbringen, heimlich, in der Nacht. Aber eine vertraute Stimme flüsterte: »Pst! Komm leise hinter mir her!« Es war Barabbas.

Wir schlichen vorsichtig einen Gang entlang, der uns ins Freie führte. Draußen kletterten wir weiter den Felsen entlang, bis wir zu einer kleinen Höhlung kamen!

»Hier sind wir sicher«, flüsterte Barabbas. »Ich habe Nachtwache.«

»Barabbas!« Ich fiel ihm um den Hals.

Wir setzten uns und schauten in die Nacht. Über Galiläa hing ein klarer Sternenhimmel. Der Mond strömte fahles Licht über die Felsen. Sein Spiegelbild ruhte auf der unbewegten Oberfläche des See Genezareth. Wir hockten im Schatten. Niemand nahm hier Notiz von uns. Barabbas flüsterte:

»Du mußt verstehen, daß ich dich heute verleugnet habe. Sie dürfen nicht wissen, daß wir uns kennen. Sonst hätten sie versucht, dich für unser Leben zu gewinnen – auch mit Druck und Erpressung. Und wenn du nein gesagt hättest, ich weiß nicht, was passiert wäre.«

Ich schwieg.

»Es war meine Idee, die Lösegeldforderung gegen einen langfristigen Vertrag einzutauschen.«

»Vielen Dank! Aber sag: Hätten sie mich getötet, wenn ich zu allem nein gesagt hätte?«

Barabbas antwortete nicht. Ich fragte noch einmaclass="underline" »Hätten sie mich getötet?«

Er seufzte: »Ich weiß nicht, was du jetzt denkst. Du denkst, wir seien kaltblütige Mörder. Ich gebe zu: Ich habe Menschen getötet. Der erste war ein römischer Soldat, der mich verfolgte. Ich mußte ihn umbringen, oder er hätte mich umgebracht. Der zweite war ein reicher Gutsbesitzer, den wir zum Tode verurteilt hatten. Er hatte eine Familie in den Selbstmord getrieben. Sie sollten in Schuldhaft. Aber sie zogen den Tod dem Gefängnis vor.«

»Aber ich habe niemanden bedroht, niemanden verfolgt, niemanden unterdrückt. Und doch habt ihr gedroht, mich zu töten. Warum? Allein, weil ich aus einer reichen Familie stamme! Das ist mein einziges Verbrechen!« protestierte ich.

Barabbas legte den Zeigefinger auf die Lippen und machte eine beschwichtigende Handbewegung. Wir mußten vorsichtig sein. In einiger Entfernung löste sich ein Stein und verschwand polternd in der Tiefe. Ich hielt die Luft an. Doch alles blieb ruhig. Wir waren allein.

»Wir haben dich nicht getötet. Wir wollten nur dein Geld. Du nennst das vielleicht Raub. Aber wir nehmen euch Reichen nur weg, was ihr den Armen entrissen habt, oft ohne ein einziges Gesetz zu verletzen. Wir sorgen dafür, daß die Güter dieser Erde ihre wahren Besitzer wiederfinden. Schau dir doch all diese Kerle hier an. Die meisten wurden von Haus und Hof verdrängt. Sie kamen zu uns, weil sie keinen anderen Ausweg sahen. Wir sind ihr letzter Halt, ihre letzte Hoffnung.«

»Aber du hättest andere Möglichkeiten. Deiner Familie geht es nicht so schlecht.«

»Ich bin eine Ausnahme. Gerade deswegen bleibe ich hier. Ich habe eine große Aufgabe. Meine Idee ist: Wir bestrafen all die Reichen, alle Richter und Beamte, die Unrecht tun. Eigentlich müßte der Staat das tun. Aber er versagt. Ja, er vermehrt das Unrecht durch Gesetze, die die Armen benachteiligen. Wir müssen an seiner Stelle einspringen. Wir müssen für Gerechtigkeit sorgen. Wenn die Leute merken, daß sie nicht mehr ungestraft ihre Bosheit ausüben können, dann werden sie sich in Zukunft scheuen, die kleinen Leute auszusaugen. Deswegen muß ich hier bleiben. Ich sorge dafür, daß diese verzweifelten Menschen nicht nur plündern und morden, sondern eine Idee verwirklichen.«

»Nennst du Gerechtigkeit, zwei junge Sklaven mit Ermordung zu bedrohen? Gegen wen haben Timon und Malchos Unrecht getan? Wen unterdrücken sie?«

Barabbas schwieg. Ich ließ nicht locker:

»Kann man denn so sicher die Bösen treffen? Jeder reiche Gutsbesitzer lebt in seinem Haus mit Dienern und Sklaven, mit Alten und Kindern. Wenn ihr ihm nachts das Haus anzündet, riskiert ihr, daß unschuldige Menschen umkommen – keine Reichen, keine Unterdrücker, keine Blutsauger, sondern selbst Unterdrückte, Ausgesaugte und Ausgebeutete! Wenn ihr einen Reichen tötet, müßt ihr seine Sklaven angreifen, die ihn begleiten, und auch sie töten. Wenn ihr seine Ernte vernichtet, vernichtet ihr die Lebensgrundlage für alle, die auf seinem Gut arbeiten und schuften. Ich finde entsetzlich, was sich viele aus unseren Schichten leisten. Aber was wird denn besser, wenn ihr uns mit Terror bekämpft?«

Wieder schwiegen wir eine Weile. Dann sagte Barabbas: »Vor kurzem ist jemand von uns abgehauen. Er redete wie du. Ich war mit ihm befreundet.«

»Was macht er jetzt?«

»Er zieht hinter einem merkwürdigen Propheten her, den er einmal kennengelernt hat, als er für uns im galiläischen See Fische gefangen hat.«

»Sag mal, heißt dieser Prophet Jesus?«

»Du kennst ihn?«

»Ich habe ihn nie gesehen. Aber ich habe von ihm gehört! Ich dachte, er sei selbst ein Zelot. Was er über die Reichen sagt, klingt fast, als hättest du es formuliert.«

»Andreas, du irrst. Dieser Jesus ist ein Spinner! Ich habe noch nie jemanden getroffen, der so verrückte Ideen hatte.«

»Aber sagt er nicht genauso wie ihr, daß eine große Wende kommt? Daß Gott das Unrecht nicht länger mit ansehen wird? Daß seine Herrschaft endlich kommt?«

»Aber da ist ein großer Unterschied: Auch wir wollen, daß Gott alleine herrscht und nicht die Römer, die unser Land unterdrükken. Aber wir sind überzeugt, daß Gott nur denen hilft, die ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. 115 Er hilft nur denen, die zum Aufstand und zur Gewalt gegen die Feinde bereit sind. Weißt du aber, was dieser Jesus sagt? Simon hat mir eines seiner Gleichnisse erzählt.