Und sie haben Erfolg!
Sie kommen zu Reichtum!
Sie kommen zu Ansehen!
Sie kommen an die Macht!
Ist es nicht sinnlos,
daß ich versuche, ohne Schuld zu leben?
Daß ich nicht mit den Wölfen heule?
Deswegen bin ich zerrissen,
immer schmerzt es in mir.
Wenn ich so redete wie alle anderen -
so ist mir, als verriete ich alles, was ich geworden bin.
Dennoch bleibe ich immer bei dir!
Du führst mich, wohin ich nicht will,
du stellst meine Ehre her,
du gibst mir die Achtung wieder!«
Wieder dachte ich an unsere Vorfahren, an Abraham, der die Ägypter betrogen, Jakob, der seine Brüder überlistet, David, der den Feinden des Landes gedient hatte. Auch sie waren krumme Wege gegangen. Auch sie waren zwischen verschiedenen Fronten hin- und hergeirrt. Konnten die verworrenen Wege, die ich ging, vielleicht doch noch zu einem guten Ziel führen? Konnte Gott alles zu einem guten Ende bringen?
Dieser Gedanke ließ mich kurz in Schlaf fallen. Aber ich wurde schon bald geweckt. Es war noch dunkel. Zwei Zeloten führten uns, Timon, Malchos und mich, mit verbundenen Augen aus der Höhle. Ich hatte in der Nacht die steilen Felswände gesehen. Sie waren in der Tat gefährlich. Wieder ging es auf halsbrecherischen Wegen und über Leitern den Felsen entlang. Ich war froh, als wir auf dem Bergrücken waren. Dort erhielten wir unsere Esel zurück. Ich merkte, wie unsere Führer uns absichtlich kreuz und quer führten, damit wir jede Orientierung verlieren mußten. Endlich, nach zwei Stunden, durften wir die Augenbinden abnehmen.
Wir standen auf dem Abhang eines Berges. Vor uns lag der galiläische See. In ihm erstrahlte die Morgensonne, die über den Golanhöhen im Osten aufgegangen war. Alle waren stehengeblieben und schauten wie gebannt in das farbige Spiel über dem Wasser.
Endlich wandte sich einer der Zeloten an mich: »Ich heiße Matthias, Sohn des Mattathias. Kannst du mir einen Gefallen tun?« Er zeigte auf das Nordende des Sees: »Dort im Dunst liegt Kapernaum. Da wohnen meine Eltern mit meinen Geschwistern. Bringe ihnen diesen Brief und dies Geld. Ohne meine Unterstützung könnten sie nicht leben. Ich konnte ihre Armut nicht mehr aushalten. Deshalb ging ich zu den Zeloten.«
Ich versprach, alles auszuführen. Lange schaute ich in die Richtung, die er mir gezeigt hatte: Irgendwo dort im morgendlichen Dunst lagen die Häuser dieser Menschen. Dort schufteten sie, litten, klagten und verzweifelten. Aber unberührt davon ging die Sonne über ihnen auf, als ginge sie alles nichts an, »all das Unrecht, das unter ihr geschah«. 127
Ich schaute zurück. Timon und Malchos verabschiedeten sich von unseren Begleitern. Das Morgenlicht ließ alle Gesichter wie verwandelt erscheinen. Auch die beiden Zeloten sahen wie andere Menschen aus. Neben Timon und Malchos schienen sie auf einmal viel jünger zu sein. Ich ahnte in ihren verwitterten Gesichtern die weichen Spuren von Kindern. Da standen wir nun zusammen: Terroristen, harmlose Menschen und ich. War es nur Gleichgültigkeit gegen menschliches Leid, wenn die Sonne über allen strahlte? War es nicht Ausdruck unbegreiflicher Güte, daß sie keinen Unterschied machte zwischen diesen Banditen und uns?
Und ich lobte Gott dafür, daß er seine Sonne aufgehen ließ über Böse und Gute, über Gerechte und Ungerechte jeden Tag neu. Mich erfaßte der Gedanke: Wenn die Sonne über Römer und Zeloten, Arme und Reiche, Herren und Sklaven scheint, wenn sie auf beiden Seiten steht – war nicht auch ich berechtigt, zwischen Römern und Juden, Behörden und Zeloten, Reichen und Armen hin- und herzupendeln? Mußte es nicht möglich sein, all diese Grenzen zu ignorieren, ohne dabei zugrunde zu gehen? Ich bekam neuen Mut.
Sehr geehrter Herr Kratzinger,
das letzte Kapitel hat Ihnen Unbehagen bereitet. Sie kritisieren die »Politisierung« der Verkündigung Jesu. Das Wort von den Ersten, die die Sklaven aller werden sollen, beziehe sich nicht auf politische Machtverhältnisse. Gemeint seien zwischenmenschliche Beziehungen in der Gemeinde. Für mein Verständnis des Wortes spricht aber, daß sich Jesus gegen die Politik unter »Heiden« abgrenzt. Gegenbegriff zu »Heiden« ist »Israel«. »So soll es nicht unter euch sein«, heißt: In Israel soll es nicht so sein wie unter anderen Völkern. Dabei redet er die Jünger an, die ganz Israel repräsentieren. Stellvertretend für die zwölf Stämme hat er »Zwölf« ausgewählt.
Wir stoßen hier auf ein grundsätzliches Auslegungsproblem: Jesus hat keine christliche Gemeinde gründen wollen, er wollte Israel erneuern. Wer seine Worte nur auf die Kirche bezieht, verkennt, daß sie einmal an die gesamte jüdisch-palästinische Gesellschaft gerichtet waren!
Für diese Gesellschaft erwartet er eine wunderbare Veränderung: Die Armen, die Kinder, die Sanften und die Ausländer werden in ihr zur Geltung kommen. Das wird das Reich Gottes sein. Es ist keine rein »geistliche Größe«. Man kann in ihm essen und trinken. Es liegt in Palästina. Die Menschen strömen von allen Seiten zu ihm. In ihm steht ein neuer Tempel.
Jesus erwartet politisch radikal veränderte Verhältnisse, aber nicht, daß sie durch politische Veränderungen realisiert werden. Das Ziel ist »politisch«, seine Verwirklichung geschieht ohne Politik: Gott wird dies Ziel realisieren. Und das heißt: Menschen dürfen dies Ziel nicht durch Gewalt gegen andere Menschen verwirklichen. Aber sie sind nicht völlig passiv.
Ich frage mich oft, warum der historische Jesus bei großen Theologen so wenig galt. Gewiß spielt dabei die Schwierigkeit eine Rolle, ein historisch vertretbares Bild von ihm zu entwerfen. Aber könnte es nicht sein, daß man ahnte: Läßt man sich auf den historischen Jesus ein, so begegnet man einer Verkündigung, die nicht nur Auswirkungen in der Kirche haben will, sondern in der ganzen Gesellschaft?
Vielleicht kommen wir auf das Problem noch einmal zurück.
Herzlich
Ihr
Gerd Theißen
11. KAPITEL
Konflikt in Kapernaum
Kapernaum lag auf dem Weg nach Bethsaida Julias, etwa zwölf Kilometer von Arbela entfernt. Von dort waren es fünf Kilometer bis zu unserem Ziel. Wir wollten noch vor dem Abend in Bethsaida sein, um am Sabbat ruhen zu können.128
Wir beeilten uns daher, möglichst schnell unseren Auftrag in Kapernaum zu erledigen. Die Familie des Mattathias wohnte in einem kleinen Fischerhaus am See. Der Vater war zum Fischen. Seine Frau Hanna war zu Hause geblieben, anstatt auf den Feldern zu arbeiten. Eine Tochter war krank. Sie hieß Mirjam und war vielleicht zwölf Jahre alt. Sie lag blaß und mit fiebrigen Augen in einer Ecke der Hütte. Die älteren Geschwister bewegten sich nur leise im Hause. Alles war gedämpft und still. Ich kannte diese Stimmung. Es war die Stimmung einer Familie, die den Tod fürchtete. Keiner wagte es auszusprechen. Aber jeder wußte es. Sobald man das Haus betrat, spürte man den Schatten des Todes – und die trotzige Hoffnung auf Rettung.
Trotzdem wurden die Augen etwas heller, als ich Brief und Geld überreichte. Ich brauchte keine langen Erklärungen abzugeben:
»Ein Fremder in Arbela hat mir dies für euch mitgegeben. Er läßt grüßen.«
Die Familie wußte Bescheid. Ich wurde herzlich willkommen geheißen und mußte mich in die Stube setzen. Timon und Malchos paßten auf unsere Esel auf.
Mirjam schaute mich mit großen Augen an. Ich merkte, daß sie mich etwas fragen wollte und lächelte ihr zu. Da sagte sie: