»Bist du der Messias?«
Um Gottes willen! dachte ich, sie ist krank und phantasiert im Fieber. Freundlich antwortete ich:
»Ich bin Andreas, ein Kaufmann aus Sepphoris.«
»Weißt du, wann der Messias kommt?« fragte sie enttäuscht.
Ich gab die übliche Kinderantwort:
»Er kommt am Ende der Zeiten!«
»Nein, er ist schon da!«
Ich schaute Hanna fragend an. Sie erklärte: »Sie meint einen Propheten, den einige für den Messias halten. Er heilt Kranke und treibt Dämonen aus. Viele im Dorf glauben an ihn. Ein paar junge Leute folgen ihm nach. Sie hofft, er möge kommen und sie heilen.«
»Du meinst Jesus!«
Mirjam nickte: »Hast du ihn gesehen?«
»Nein«, sagte ich. »Aber ich würde ihn gern sehen. Alle erzählen von ihm. Er soll oft in dieser Gegend sein.«
»Er ist nie lange an einem Ort«, erklärte Hanna.
Mirjam murmelte: »Warum ist er nicht hier? Warum macht er mich nicht gesund?«
Die Mutter setzte sich zu Mirjam auf den Boden und streichelte liebevoll ihr Haar: »Er hat gesagt:
Blinde sehen und Lahme gehen,
Aussätzige werden rein und Taube hören,
Tote werden auferweckt
und die Armen erhalten eine gute Botschaft.
Glücklich, wer nicht Anstoß an mir nimmt.«129
»Wenn er doch käme!« flüsterte das Kind.
Hanna wickelte ihre Tochter in ein Tuch und nahm sie auf den Schoß: »Ich kann ihn nicht herbeiholen. Glaub mir, ich kann es nicht. Aber ich kann dir eine Geschichte von ihm erzählen, willst du?«
Mirjam nickte, und Hanna begann:130
»Eine Frau litt zwölf Jahre lang an Blutungen. Sie hatte schon viel durchgemacht, hatte viele Ärzte besucht und ihr ganzes Vermögen dafür aufgebraucht. Aber es hatte nichts genutzt. Im Gegenteil, es war noch schlimmer geworden. Als sie von Jesus hörte, kam sie mitten in der Menge zu ihm und faßte heimlich von hinten sein Kleid an. Denn sie sagte sich: ﹥Wenn ich nur ein Stückchen von seinen Kleidern berühre, werde ich gerettet.﹤ Da hörten die Blutungen sofort auf. Sie spürte am ganzen Körper, daß sie geheilt war. Aber auch Jesus hatte etwas gemerkt. Er drehte sich um und fragte: ﹥Wer hat meine Kleider berührt?﹤ Seine jünger sagten: ﹥Du siehst doch, wie dich das Volk bedrängt und da fragst du: Wer hat mich berührt?﹤ Aber Jesus schaute sich trotzdem um, um herauszufinden, wer es getan hatte. Die Frau fürchtete sich sehr und zitterte am ganzen Körper. Sie trat vor und warf sich vorihm nieder. Er aber sagte: ﹥Tochter, dein Glaube hat dich gerettet.
Gehe hin in Frieden und sei geheilt von deinen Beschwerden.﹤«
Mirjam hatte begierig zugehört, als wäre alles zu ihr gesagt. Aber jetzt hielt sie nicht mehr an sich. Sie schrie:
»Warum kommt er nicht? Warum kann ich ihn nicht berühren wie die Frau, damit ich gesund werde? Warum nicht?« Und sie fing an zu weinen.
Da hatte ich einen Einfalclass="underline" Ich ging zu ihr hin, legte meine Hand auf ihre Stirn und sagte:
»Mirjam, du bist wie die Frau in der Geschichte. Du glaubst, daß Berührungen gesund machen. Aber hast du nicht gehört, was Jesus am Ende gesagt hat? Er hat gesagt: Dein Glaube hat dich gerettet. Er hat nicht gesagt: Deine Berührung hat dich gerettet!«
Ich gebe zu, es war ein verzweifelter Einfall. Ich war selbst nicht davon überzeugt, daß es richtig war, was ich tat. Ich wollte etwas Freundliches zu dem Mädchen sagen, das Angst vor dem Sterben hatte.
Mirjam schaute mich dankbar an. Sie wurde ruhiger. Sie bat um mehr Geschichten. Hanna erzählte. Sie erzählte von einer Frau, die für ihr kleines Töchterchen Jesus um Heilung gebeten hatte – und Jesus hatte es aus der Ferne geheilt, ohne zu ihr zu kommen.131 Hanna fügte hinzu:
»Warum muß er denn unbedingt in unsere Hütte kommen? Kann er nicht auch dich aus der Ferne heilen?«
Und dann erzählte sie von Blinden, die wieder sehend geworden waren, von Aussätzigen, die geheilt wurden, von Lahmen, die wieder gehen konnten. Ihre Geschichten wurden immer wunderbarer und unwahrscheinlicher. Mirjam sog jede Geschichte in sich hinein. Es waren ihre Geschichten. Sie war blind und wurde sehend. Sie war lahm und konnte wieder gehen. Sie wurde krank und wurde wieder gesund. Aus jedem Wort schöpfte sie neue Hoffnung.
Auch ich hörte gebannt zu: Manches in diesen Geschichten stieß mich ab. Es klang abergläubisch und primitiv. Aber ich wurde mit der Zeit nicht weniger von ihnen gepackt als Mirjam. Ich merkte: In diesen Geschichten lag die ganze Hoffnung dieser armen Leute. Ich hörte aus ihnen ihr Aufbegehren gegen Leid und Tod. Ich spürte: Solange diese Geschichten erzählt wurden, würden sie sich nicht damit abfinden, daß Menschen hungern und dürsten, daß sie verstümmelt und behindert, daß sie krank und hilflos sind. Solange sie diese Geschichten hatten, würden sie Hoffnung haben.
Ich fragte mich, ob Hanna all ihre Geschichten von Jesus, die sie Mirjam erzählte, gehört hatte. Oder ob sie nicht einige erfand, um die kleine Mirjam zu trösten? Ich glaube, wenn ihr die Geschichten ausgegangen wären, ich hätte mich selbst hingesetzt und einige hinzu erfunden. Ich weiß, Geschichten allein machen nicht gesund. Aber ich hatte das Gefühl, ohne diese Geschichten würde Mirjam nicht geheilt.
Inzwischen war der Vater vom Fischfang zurück. Er war auf böse Nachrichten gefaßt. Seine Miene hellte sich auf, als er Mirjam ruhig vorfand und Brief und Geld von seinem Sohn erhielt.
Ich hatte inzwischen einen Plan, um Mirjam zu helfen. Ich kannte in Tiberias einen Arzt Hippokrates, einen Griechen, wie schon der Name verriet. Man konnte mit dem Boot in vier Stunden in Tiberias sein. Wenn einer der älteren Söhne des Mattathias zusammen mit Timon und Malchos noch heute abend hinüberführen und dort am Strand übernachteten, könnten sie morgen Hippokrates holen und nach Kapernaum zurückfahren.
Mattathias wandte gegen meinen Plan ein: »Wir haben zu wenig Geld, um einen Arzt zu bezahlen! Wir brauchen das bißchen Geld zum Leben – und um die Steuern zu zahlen!«
Ich beruhigte ihn. Das Geld würde ich bezahlen. Ich schrieb sogleich einen Brief an Hippokrates und bat ihn eindringlich zu kommen und zu helfen. Für Honorar und Kosten würde ich aufkommen. Außerdem gab ich eine Nachricht an Chusa und Johanna mit, daß ich sie in der nächsten Woche in Tiberias besuchen wollte.
Es war noch eine Stunde bis Sonnenuntergang. Die jungen Leute gingen zum Strand hinunter. Die tief stehende Sonne breitete einen goldenen Glanz über den See, in dem das Boot als schwarzer Tropfen verschwand. Wir zündeten die Sabbatlichter an, sprachen den Segen und aßen.
Es dauerte nicht lange, und es wurde an der Hütte geklopft. Zwei Männer verlangten Mattathias zu sprechen. Der ältere hieß Gamaliel, der jüngere Daniel. Mattathias bat sie herein. Die beiden nahmen Platz.
Gamaliel begann: »Dein Sohn ist mit ein paar Fremden am Sabbat zum Fischen gefahren! Weißt du nicht, daß es verboten ist, am Sabbat zu arbeiten?«
Mattathias beruhigte ihn: »Sie fuhren nicht zum Fischen. Sie wollten nach Tiberias, um einen Arzt für Mirjam zu holen. Niemand hat den Sabbat übertreten!«
Daniel wandte ein: »Konntest du nicht warten, bis der Sabbat vorüber ist?«
Ich schaltete mich ein: »Ich habe sie geschickt. Mirjam braucht Hilfe. Wenn es um eine Heilung geht, ist es erlaubt, die Sabbatregeln außer Kraft zu setzen.«
»Nein!« widersprach Daniel. »Nur wenn es keine andere Möglichkeit gibt.«
Ich wurde ärgerlich. In Sepphoris war es selbstverständlich, daß man am Sabbat den Arzt holen durfte. Waren diese Leute vom Lande engherzig! Aber vielleicht mußten sich die beiden auch nur dafür rechtfertigen, daß sie uns beim Essen gestört hatten.