Gamaliel sagte nachdenklich: »Es gibt erlaubte Fälle: Wenn am Sabbat ein Schaf in den Brunnen fällt, so darf es rausgeholt werden!«
Daniel protestierte: »Da bin ich anderer Meinung. Wenn Gott will, daß das Schaf überlebt, wird es überleben! Man darf sich erst nach dem Sabbat darum kümmern.«132
Gamaliel widersprach: »Wie kann es denn überleben. Es wird ertrinken. Willst du Gott ein Wunder vorschreiben? Ihr Essener seid strenger als wir Pharisäer. Wir wollen praktikable Lösungen. Die meisten Schriftgelehrten stimmen mit mir überein, daß die Rettung eines Tieres am Sabbat erlaubt ist. Schließen wir nun vom Geringeren aufs Größere, dann komme ich zu dem Ergebnis: Wenn es erlaubt ist, ein Tier zu retten, wieviel mehr ist es erlaubt, einen Menschen zu heilen!«
Mirjam hatte die Diskussion verfolgt. Sie rief dazwischen: »Auch Jesus hat Menschen am Sabbat geheilt! Mama, erzähl doch die Geschichte!«
Hanna war es sichtlich peinlich, vor den beiden Besuchern von Jesus zu reden. Doch welche Mutter hätte in dieser Situation ihrem Kind eine Bitte abgeschlagen? Also erzählte sie:
»Jesus kam am Sabbat in eine Synagoge. Dort war ein Mensch mit einer verdorrten Hand. Und die Leute lauerten darauf, daß er den Sabbat bricht. Und er sprach zu dem Mann mit der verdorrten Hand: ﹥Steh auf und tritt in die Mitte!﹤ Dann sagte er zu den anderen: ﹥Ist es erlaubt, am Sabbat Gutes zu tun oder soll man Böses tun? Ist es erlaubt, Leben zu retten oder soll man töten?﹤ Die Leute schwiegen. Er blickte sich zornig um, und er war voll Traurigkeit über die Verstokkung ihrer Herzen und sprach zu dem Mann: ﹥Streck deine Hand aus!﹤ Und er streckte sie aus, und seine Hand war geheilt.«133
Alle hatten ihr aufmerksam zugehört. Gamaliel sagte freundlich:
»Mirjam, ist das nicht ein anderer Fall als unser Schaf im Brunnen? Das Schaf würde ertrinken, wenn man es nicht sofort rausholt. Aber könnte der Mann mit der verdorrten Hand nicht einen Tag warten? Es geht doch nicht darum, Gutes oder Böses zu tun, zu heilen oder zu töten! Es geht darum, das Gute heute oder morgen zu tun.«
Daniel warf ein: »Da siehst du, was daraus wird, wenn man Zugeständnisse macht. Sie werden ausgenutzt. Dieser Jesus weiß genau: Alle Schriftgelehrten stimmen mit ihm darin überein, daß am Sabbat einem anderen Menschen geholfen werden darf. Und das legt er nun extrem aus: Jeder könne entscheiden, wann er die Sabbatregeln zu beachten habe und wann nicht, wann er zur Hilfe verpflichtet sei und wann nicht.«
Hanna hatte ungeduldig zugehört: »Ich verstehe diese Spitzfindigkeiten nicht. Es ist doch klar: Man darf am Sabbat helfen. Der Sabbat wurde für den Menschen geschaffen und nicht der Mensch für den Sabbat. Menschliches Leben ist mehr wert als der Sabbat.«134
Gamaliel verteidigte sich: »Was heißt hier helfen? Jemand könnte sagen, ich will meinem Nachbarn bei der Ernte helfen. Also darf ich die Sabbatregeln verletzen. Nein, es ist wichtig, daß wir die einzelnen Fälle genau regeln.«
Ich versuchte zu vermitteln: »Darum laßt uns doch wenigstens für diesen Fall festhalten: Es ist erlaubt, am Sabbat nach einem Arzt zu schicken. Wir haben nichts Falsches gemacht, als wir nach Hippokrates gesandt haben.«
Das hätte ich nicht sagen sollen! Daniel fiel gleich über mich her: »Hippokrates – ein heidnischer Arzt! Ein Fremder! Gibt es denn keine jüdischen Ärzte in Tiberias? Nein, das ist wirklich zu viel. Erst den Sabbat brechen, dann die Reinheitsgebote verletzen. Weißt du nicht, daß Fremde und Juden sich nicht berühren sollen? Sie sollen so getrennt bleiben wie rein und unrein. Aber du willst ein jüdisches Mädchen von einem heidnischen Arzt behandeln lassen? Willst ihn in diese Stube kommen lassen?«
Ich entgegnete trotzig: »Hippokrates behandelt in Tiberias Juden. Wieso nicht in Kapernaum?«
Demonstrativ drehte uns Mattathias den Rücken zu, holte sich einen Hocker und setzte sich zu Hanna, die immer noch das fiebernde Kind auf dem Schoß hielt.
Gamaliel sagte ernst: »Die in Tiberias nahmen es mit den Reinheitsregeln nie so genau. Als Herodes Antipas die Stadt gründete, wußte er, daß diese Siedlung gegen unsere Gesetze verstieß. Denn Tiberias wurde auf vielen Gräbern gebaut.135 Unser Gesetz sagt, daß solche Siedler unrein sind. Aber niemand beachtete das. Dieses Tiberias ist eine unreine Stadt!«
Daniel unterstützte ihn: »Die Nachlässigkeit breitet sich jetzt auf dem Lande aus. Die Jesusanhänger vernachlässigen den Unterschied zwischen rein und unrein. Sie waschen sich nicht die Hände vor dem Essen.136 Sie ziehen durch die Felder und raufen Ähren am Sabbat.137 Sie sondern sich nicht von den Fremden ab. Jetzt holen sie sogar heidnische Ärzte in jüdische Häuser!«
Nun wurde ich ärgerlich: »Ich bin kein Jesusanhänger! Ich habe Jesus nie gesehen. Und ich würde immer einen heidnischen Arzt holen, gleichgültig was Jesus oder ihr sagt! – Aber was hat Jesus zu den Reinheitsgeboten denn gesagt?«
Gamaliel erklärte: »Ich habe ihn darüber diskutieren hören. Er wischte alle unsere Überlegungen mit dem Argument weg:
›Nichts was von außen in den Menschen hereinkommt,
kann den Menschen verunreinigen.
Sondern was aus dem Menschen herauskommt,
das verunreinigt den Menschen!﹤«138
Ich fragte: »Sagt er damit, daß es keinen Unterschied zwischen rein und unrein gibt?«
»Das ist es ja! Wenn er recht hätte, gäbe es keine unreinen Speisen mehr, keine unreinen Menschen, keine unreinen Orte. Alles wäre rein. Man könnte alles von Heiden kaufen und alles an Heiden verkaufen!«
Ich wurde hellhörig: »Man könnte auch Olivenöl von Fremden kaufen?«
Gamaliel nickte: »Das wär die Konsequenz!«
Ich begann über mögliche Folgen für unseren Olivenhandel nachzudenken, aber dann platzte Mattathias in die Diskussion hinein:
»Was schert mich diese Diskussion über rein und unrein! Über eure Sabbatregeln! Brecht ihr nicht selbst den Sabbat, wenn ihr mit euren gelehrten Diskussionen andere Leute behelligt, anstatt uns und unser krankes Kind in Ruhe zu lassen? Seht ihr nicht, wie krank sie ist! Seht ihr nicht, daß wir ganz andere Sorgen haben! Aber ihr diskutiert über Helfen und Nichthelfen, Erlaubtsein und Nichterlaubtsein, anstatt zu helfen. Anstatt wenigstens still zu sein. Jesus sagt noch ganz andere Sachen über euch:139
﹥Weh euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler.
Ihr reinigt das Äußere des Bechers und der Schüssel.
Innen aber seid ihr voll von Raub und Unreinheit:
Weh euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler,
ihr ähnelt getünchten Gräbern, die von außen schön erscheinen,
innen aber sind sie voll toter Knochen und Unreinheit.﹤
Recht hat er!«
Kein Zweifeclass="underline" Das war ein Rausschmiß. Unsere beiden Schriftgelehrten wandten sich zum Gehen. Gamaliel sagte noch:
»Du bist ungerecht, Mattathias. Die Sorge um dein Kind spricht aus dir! Möge es gesund werden!« Dann eilten die beiden hinaus.
Ich war versucht, ihnen nachzugehen. Gerne hätte ich etwas Versöhnliches gesagt. Aber jetzt war es wichtiger, Mirjam zu beruhigen. Ich setzte mich neben sie und erzählte ihr harmlose Geschichten, keine Wundergeschichten, sondern Fabeln und Märchen. Bald schlief sie ein. Und auch wir legten uns schlafen.
Am Sabbatmorgen ging ich in den Gottesdienst. Die feierliche Stille verwandelte das Dorf. Menschen, die sechs Tage lang geschuftet hatten, traten aufrechten Gangs aus ihren Hütten. Alle versammelten sich in der Synagoge. Gamaliel hatte Schriftlesung und Auslegung übernommen. Er begann mit seinem Segen: