»Gepriesen bist du, Herr, unser Gott,
König der Welt,
Bildner des Lichts
und Schöpfer der Finsternis,
der Frieden stiftet
und alles erschafft.
Der der Erde
und denen, die auf ihr wohnen,
Licht spendet
und in seiner Güte
jeden Tag immerdar
das Werk der Schöpfung erneuert!«140
Dann las er aus dem Buch Exodus vor. Es war die Geschichte von Gottes Offenbarung am Sinai. Seine Auslegung konzentrierte sich auf einen Satz:
»Mein ist die ganze Erde. Und ihr sollt mir ein Königreich von Priestern werden und ein heiliges Volk!«141
Gamaliel sprach:
»Wieso konnte Gott in der Wüste von Priestern sprechen? Dort gab es keinen Tempel! Keine Opfer! Doch Gottes Tempel ist die ganze Welt. Er sagt: ﹥Mein ist die ganze Erde‹. Daher sollen wir uns überall so verhalten, als seien wir im Tempel, wo alles heilig ist: Sonne und Licht, Tag und Nacht, Berge und Flüsse, Meer und Land, Pflanzen und Tiere. Alles müssen wir mit Ehrfurcht behandeln.
Vielleicht sagt ihr jetzt: In den Tempel treten nur Priester! Nur von ihnen verlange Gott besondere Rücksicht auf die Heiligkeit des Tempels! Aber Gott will, daß wir alle ein heiliges Volk werden. Es soll nicht zwei Klassen geben: Priester mit besonderer Heiligkeit und andere, die draußen stehen. Vor ihm sind alle gleich!
Vielleicht denkt mancher unter euch: Genügt es nicht, wenn wir am Sabbat vor Gott treten? Aber wenn die Welt Gottes Tempel ist, so stehen wir ja in jedem Augenblick vor Gott, auch wenn es uns nicht bewußt ist. Am Sabbat aber erinnern wir uns gegenseitig an Gott. Wir würden ihn sonst vergessen! Wir würden vieles für wichtiger halten als den Gedanken an Gott – wenn wir uns nicht durch strenge Verpflichtungen an jedem siebten Tag von aller Arbeit abhielten!«
Nach dem Gottesdienst kam Gamaliel auf mich zu. Er erkundigte sich nach Mirjam und sagte:
»Ich war gestern sehr unglücklich, weil unser Gespräch kein versöhnliches Ende hatte. Ich werde noch heute zu Mattathias gehen, um mich mit ihm auszusprechen.«
Ich beruhigte Gamaliel. Mattathias sei ein gutmütiger Mensch. Mirjam sei bald eingeschlafen und habe am Morgen etwas besser ausgesehen. Auch ich hätte das Gespräch gestern gerne fortgesetzt. Mir sei klar geworden, daß die Schriftgelehrten die Hilfeleistung für andere Menschen höher einschätzten als die Beachtung der Sabbatregeln. Aber warum müsse man die Ausnahmen so genau festlegen? Warum traue man nicht jedem Menschen zu, selbst entscheiden zu können, was sich mit dem Sabbat verträgt und was nicht. Gamaliel nickte und sagte:
»Schau dir einmal das Leben bei anderen Völkern. an. Sie kennen keinen Sabbat. Sie kennen nur Opferfeiern für die Götter. Zähle sie im Jahr zusammen. Vielleicht sind es 20 Tage, vielleicht 30 – aber nicht mehr! Die meisten Tage im Jahr arbeiten die einfachen Leute. Sie kommen nur selten in den Genuß jener Ruhe, die für Besitzende und Mächtige selbstverständlich ist. Bei uns Juden aber ist es anders: 52 Mal feiern wir den Sabbat. Nicht nur die Herren und Reichen feiern ihn. Er gilt auch für kleine Leute. Er gilt auch für Diener und Sklaven. Und zu diesen 52 Sabbaten kommen noch Feste:
Die großen Feste im Herbst: Rosch Haschana, das Neujahrsfest, Jom Kippur, der Versöhnungstag, und Sukkot, das Laubhüttenfest. Dazu die Feste im Frühjahr und Frühsommer: Passa und das Wochenfest. Etwa 60 Tage hat bei uns auch der kleine Mann einen Ruhetag im Jahr! Kein Wunder, daß die anderen Völker argwöhnen, wir seien faul!«142
»Keiner unter uns will diese vielen Ruhetage abschaffen! Warum aber die vielen Regeln im einzelnen? Warum die Aufregung, wenn nicht alle gehalten werden?«
»Keiner will sie abschaffen! Aber viele Reiche hätten gerne, daß ihre Sklaven, ihre Dienerinnen, ihre Pächter am Sabbat für sie arbeiteten! Dann könnten sie noch mehr verdienen! Zumal sie sehen, wie ihre heidnischen Konkurrenten und Geschäftspartner ihre Leute ausnutzen und auch am Sabbat arbeiten lassen. Sie wollen gewiß nicht den Sabbat abschaffen, aber sie würden ihn aushöhlen. Sie würden tausend Ausnahmen zulassen! Wenn es um Geld geht, muß man mit ganz scharfen Bestimmungen gegenwirken – sonst setzen sich Geld und Reichtum durch.«
»Befürchtest du denn, daß Leute wie Jesus den Sabbat in diesem Sinne aushöhlen?«
»Absichtlich tut er es gewiß nicht. Im Gegenteil! Reiche und Mächtige finden bei ihm wenig Unterstützung! Aber was er zu wenig bedenkt: Sein Beispiel könnte Schule machen. Es könnte modern werden, das Arbeitsverbot am Sabbat lax zu handhaben. Andere könnten das in ihrem Sinne ausnutzen.«
»Ist es nach deiner Meinung verboten, was Jesus tut?«
»Das kann man nicht sagen. Alles, was Jesus zum Sabbat und zu den Reinheitsgeboten lehrt, könnte auch einer von uns sagen. Gewiß hat er eine radikale Auffassung. Aber bei uns vertreten viele radikale Auffassungen.«
»Aber warum gibt es immer Streit um seine Lehre?«
»Er denkt zu wenig an die Konsequenzen. Er sieht nicht, daß jede Durchlöcherung der Sabbatregeln später dazu führen könnte, daß wir wie die Heiden leben! Und diese Unbesonnenheit findet sich oft bei ihm! Er gibt sich mit zweifelhaften Gestalten ab: mit Säufern, Prostituierten, Betrügern. Das ist nicht verboten. Wer Sünder auf den rechten Weg zurückbringt, findet unsere Anerkennung. Wir wissen, daß Gottes Barmherzigkeit denen gilt, die versagen! Wir freuen uns über die Umkehr der Bösen! Aber er ißt mit ihnen zusammen, ohne sich zu vergewissern, daß sie sich von ihrem bisherigen Lebensweg abgekehrt haben. Er stellt keine Anforderungen. Er hofft, daß sie schon von selbst zur Umkehr kommen! Das nenne ich Leichtsinn. Vielleicht hilft er einigen Menschen so. Aber was für Auswirkungen hat es auf die vielen anderen? Werden sie nicht sagen: Warum muß ich mich noch anstrengen, das Gute zu tun? Wenn Jesus recht hat, ist Gott auch so schon mit mir zufrieden.«
Gamaliel hatte sich in seine Gedanken gesteigert. Seine Worte wurden bewegter.
»Ja«, sagte er. »Dieser Jesus könnte mein Schüler sein! Er könnte alle seine Meinungen vertreten. Aber ich würde ihn zwingen, die Konsequenzen für unser Volk und das alltägliche Leben zu durchdenken. Ich nenne noch ein Beispiel. Eines Tages kam ein heidnischer Hauptmann zu ihm, der hier in Kapernaum wohnt.143 Er bat ihn, seinen Burschen zu heilen. Natürlich muß man Heiden helfen. Aber warum ausgerechnet diesem! Jeder weiß, daß diese heidnischen Offiziere meist homosexuell sind. Ihre Burschen sind ihre Liebhaber. Aber Jesus interessiert so etwas nicht. Er fragte nicht einmal, was das denn für ein Bursche sei. Er heilte ihn – und dachte nicht daran, daß später einmal einer auf die Idee kommen könne, mit Berufung auf ihn zu lehren, man könne Homosexualität zulassen!«
»Bist du sicher, daß der Hauptmann homosexuell war?«
»Natürlich nicht. Aber jeder mußte doch diesen Verdacht haben. Unbekümmert um diesen Verdacht hat Jesus sich ihm zugewandt! Hier würde ich zu mehr Besonnenheit raten!«
»Gut, es war vielleicht unbesonnen. Aber war es verboten?«
»Nein, das könnte ich nicht sagen. Gott will, daß allen Menschen geholfen wird.«
»Auch Zöllnern und Prostituierten?«
»Auch ihnen!«
»Aber warum wird Jesus dann kritisiert, wenn er mit ihnen zusammen speist?«
»Wenn es irgendjemand täte, würden wir nichts sagen. Aber dieser Jesus ist ein einflußreicher Mann. Er ist ein Lehrer. Er ist einer von uns. Nur deshalb kritisieren wir ihn, weil er uns nahesteht!«
»Und was ist daran zu kritisieren, daß jüdische Lehrer mit Zöllnern verkehren? Wir Kaufleute haben oft mit ihnen zu tun.«