»Denk an die Auswirkungen! Wir haben nichts gegen einzelne Zöllner. Es sind Menschen wie alle anderen. Aber sie vertreten die Römer in unserem Land. Was sie einnehmen, geht zu einem großen Teil an die Fremden. Wir dürfen nicht den Eindruck erwecken, daß jüdische Lehrer sich mit der Fremdherrschaft abgefunden hätten. Die Römer sollen von uns nicht den Heiligenschein göttlicher Legitimität erhalten!«
»Befürchtest du, Jesus könnte ihnen diesen Heiligenschein geben?«
»Nein! Aber die Menge, die ihm nachfolgt, könnte manches mißverstehen! Wer im Volk das Ansehen hat, Gottes Willen zu lehren, der sollte nicht fremden Soldaten demonstrativ helfen. Der sollte nicht vor aller Augen mit Zöllnern verkehren! Jesus weiß nicht, wie viel auf dem Spiel steht, wenn wir uns den Heiden nähern, wenn wir uns so wie sie verhalten. Ich kritisiere die Unbefangenheit, mit der er es tut! Er tut so, als stünde er zwischen den Fronten!«
Blitzartig durchfuhr es mich: Auch ich stand zwischen den Fronten. Auch ich mußte in den Augen Gamaliels eine problematische Gestalt sein! Würde Gamaliel mich je verstehen können? Ich fragte nach mir selbst, als ich weitere Fragen stellte.
»Wodurch rechtfertigt denn Jesus sein Verhalten?«
»Ich darf noch einmal betonen: Die Meinungen, die Jesus vertritt, können von uns Pharisäern und Schriftgelehrten vertreten werden. Wir sind gewohnt, viele Meinungen zu diskutieren. Aber Jesus entzieht sich unseren üblichen Diskussionsmethoden. Er äußert seine Meinung nicht als eine Meinung neben anderen. Er diskutiert sie nicht mit Gründen und Gegengründen. Er tut so, als spreche Gott selbst aus ihm! Diese Mißachtung unserer Formen – das ist das Anstößige an ihm.«
Wir unterhielten uns noch lange über Jesus. Ich merkte, wie mich diese Gestalt anzog. Auch ich pendelte zwischen den Fronten. War ich nicht einem Zöllner vergleichbar, nur daß ich nicht Geld sammelte, sondern Informationen, um sie an die Römer weiterzugeben. Müßte dieser Jesus nicht Verständnis für mich haben?
Ich kehrte mit Gamaliel in die Hütte des Mattathias zurück. Gamaliel brachte Früchte mit, um sie Mirjam zu schenken: »Am Sabbat soll Friede unter uns sein«, sagte er. Und Mattathias antwortete: »Schalom! Friede sei mit dir!«
Der gestrige Eklat war ausgeräumt.
Bald kamen auch die Jungen mit Hippokrates aus Tiberias. Er untersuchte Mirjam und meinte: »Das Schlimmste ist wohl vorbei!«
Da wurde es wieder hell in der kleinen Hütte, als finge das Leben noch einmal von vorne an.
Sehr geehrter Herr Kratzinger,
daß wir in der Beurteilung der Pharisäer übereinstimmen, freut mich. Mir ist bewußt, daß die Forschung noch im Fluß ist. Wir sind vorsichtiger geworden, spätere Texte über die Pharisäer für die Verhältnisse vor 70 n.Chr. auszuwerten.
Unabhängig davon hat die Exegese den Pharisäern gegenüber eine Wiedergutmachungspflicht. Allzu oft hat sie gegen die elementarsten Prinzipien historischer Wissenschaft verstoßen, als sie Polemik gegen die Pharisäer historisch für bare Münze nahm. Die Entdeckung der Qumrantexte brachte erste Korrekturen: Verglichen mit den radikalen Essenern erscheinen die Pharisäer als eine auf Kompromisse und Mäßigung bedachte Strömung. Diese Pharisäer haben nach der Katastrophe des Jahres 70 n.Chr. das Judentum neu gegründet. Das neue Verständnis für das Judentum in der Gegenwart hat notwendigerweise auch das historische Urteil über sie verändert.
Die Theologie stand in der Neuzeit immer wieder vor der Aufgabe, überholte und gültige Aspekte der christlichen Religion zu unterscheiden. Was lag näher, als das pharisäisch geprägte Judentum für das verantwortlich zu machen, wovon man sich lösen wollte: Das jüdische Erbe im Christentum galt als das Überholte. Die Lösung von der Abhängigkeit vom »Gesetz« konnte als Vorwegnahme der Emanzipation des Menschen von äußeren Autoritäten in der Moderne verstanden werden.
Viele gebildete Theologieprofessoren entwickelten daher ihr modernes Selbstverständnis in Abhebung vom Judentum. Und sie fanden Resonanz beim christlichen Kleinbürgertum, das aus ganz anderen Gründen eine Abneigung gegen Juden hegte. Es fühlte sich durch die moderne Entwicklung wirtschaftlich bedroht und machte nun Juden für all das verantwortlich, was man beklagte: Liberalismus, Kapitalismus, Demokratie, Religionsverfall usw.
Es gab eine merkwürdige Koalition von liberalen Theologen, die modern sein wollten – und verunsicherten Kleinbürgern, die Angst vor dem Weg in die moderne Zeit hatten. In der neutestamentlichen Polemik gegen Pharisäer (und Juden überhaupt) fanden beide ihre Bedürfnisse erfüllt.
Vielleicht verstehen Sie, warum ich mich darüber freue, daß auch Sie für eine Revision unseres Bildes vom pharisäischen Judentum eintreten.
Herzlich
Ihr
Gerd Theißen
12. KAPITEL
Menschen an der Grenze
Wir zogen weiter von Kapernaum nach Bethsaida, um zwei Tage verspätet. Bethsaida ist ein kleines Städtchen am Nordufer des galiläischen Sees, jenseits der Landesgrenze. Es gehört zum Gebiet des Herodes Philippus. Vor nicht allzu langer Zeit hatte Philippus das jüdische Dorf zu einer kleinen hellenistischen Stadt ausbauen wollen. Zu Ehren der Julia, der Tochter des Kaisers Augustus, erhielt die Neugründung den Namen Julias Bethsaida.144 Im Grunde war es noch immer ein großes Dorf.
Auf dem Weg nach Bethsaida mußten wir den Zoll passieren. Der Zöllner war uns gut bekannt: ein lebensfroher Mann, der sich nach dem üblichen Feilschen um Zolltarife und Bestechungsgelder gern zu einem Schluck Wein einladen ließ.
Aber diesmal wurden wir überrascht. Anstatt des Zöllners Levi trat uns ein unbekannter Mann entgegen. Er stellte sich vor:
»Mein Name ist Kostabar! Ich bin der neue Zollpächter145 an dieser Station. Welche Waren bringt ihr mit?«
Der kommt aber direkt zur Sache, dachte ich. Ich fragte zurück:
»Und was ist mit Levi?«
»Levi ist nicht mehr Zöllner. Zukünftig habt ihr es mit mir zu tun.«
»Ist ihm was zugestoßen?«
Kostabar zuckte mit den Achseln: »Das kann man nicht sagen. Er wollte nicht mehr Zöllner sein. Er verschwand.«
Wieder einer, der plötzlich verschwunden war! Ich hakte noch einmal nach:
»Ist er unter die Räuber gegangen?«
»Ich weiß nicht. Ich habe nichts mehr von ihm gehört. Jetzt bin ich Zollpächter. Noch einmaclass="underline" Welche Waren sind zu verzollen?«
Wir zeigten ihm alles, was wir mitführten. Kostabar fragte mich:
»Ist das alles?«
Es war in der Tat wenig. Für einen Kaufmann wie mich unwahrscheinlich wenig. Ich erklärte:
»Wir haben für einen Teil unserer Ware in Galiläa überraschend Abnehmer gefunden. Das ist nur der Rest.«
Unsere »Abnehmer« waren die Zeloten gewesen, die einen großen Teil der Waren beschlagnahmt hatten als Anzahlung auf den jährlichen Tribut. Kostabar blieb mißtrauisch:
»Und wo habt ihr den Rest verborgen?«
Ich grinste. Jetzt kam mein Trick, mit dem ich mit Zöllnem ins Geschäft kam:
»Vielleicht habe ich etwas vergessen.«
Kostabar wühlte in unserem Gepäck. Da hatte er es gefunden. Er zog einen mittelgroßen Weinschlauch aus den übrigen Sachen hervor:
»Was ist das?«
»Das ist nicht für den Verkauf bestimmt!«
»Macht nichts. Es muß verzollt werden!«
»Ich werde nicht zahlen.«
»Natürlich wirst du zahlen. Sonst wird die Ware beschlagnahmt.«
»Verzollt werden nur Waren, die ins Land eingeführt werden. Also zahle ich nicht.«
»Willst du den Wein hier auf den Boden gießen?«
»Nicht auf den Boden!«
Kostabar schaute mich begriffsstutzig an. Dann sagte ich lachend:
»Dieser Wein ist dazu bestimmt, daß wir ihn zollfrei zusammen trinken. Früchte und Brot gibt es auch.«
Kostabar schüttelte den Kopf: »Bloß kein Trinkgelage im Zollhaus!«
Ich widersprach: »Ein Glas Wein ist noch kein Gelage!«