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»Aber so fängt es an!«

»Was?«

»Diese ganze Schlamperei, die ich hier angetroffen habe.«

Ich schüttelte verständnislos den Kopf: »Du bist der erste Zöllner, der mir erklärt, ein Schluck im Zollhaus sei Schlamperei. Dein Vorgänger war da anders.«

»Eben deshalb!«

Kostabar blieb hartnäckig. Ich merkte, daß ich den Namen des Vorgängers besser nicht erwähnen sollte. Da war irgend etwas geschehen. Wie auch immer, ich brachte diesen Zöllner nicht zum Trinken. Kostabar hatte einen penetranten Willen zur Nüchternheit. Natürlich wußte er genauso wie ich, daß ein angetrunkener Zöllner leichter übers Ohr zu hauen ist als ein stocknüchterner Mensch. Wir wurden wieder geschäftlich. Kostabar verlangte zehn Prozent Zoll.

Ich protestierte: »Bisher wurden hier immer nur sechs Prozent verlangt.«

»Eben deshalb!«

»Verstehe ich nicht.«

»Warum hat mein Vorgänger denn wohl seinen Beruf aufgegeben? Weil er von lumpigen sechs Prozent nicht leben konnte. Sechs Prozent sind zu wenig.«

»Aber es gibt feste Tarife.«

»Na und! Zugegeben, der Tarif liegt bei sechs Prozent. Davon könnte ein Zöllner leben, wenn nicht ständig geschmuggelt würde. Ich rechne damit, daß mir vier Prozent Verdienst durch Schmuggelei entgehen. Was bleibt mir übrig, als diese vier Prozent auf den Tarif zu schlagen – als Entschädigung für entgangenen Verdienst.«

»Das ist ungerecht gegenüber denen, die ihre Waren ordnungsgemäß verzollen!«

»Es ist vor allem ungerecht, erst uns Zollpächter zu betrügen – und uns dann Vorwürfe zu machen, weil wir nüchtern unsere Verluste mit einkalkulieren.«

Ich lenkte ein: »Wie wär’s mit zwei Prozent Aufpreis – Sondertarif für ehrliche Kaufleute wie mich. Und hinterher einen Schluck Wein als Trost für das, was dem Zöllner Kostabar von anderen vorenthalten wird.«

 

Kostabar schien mit sich reden zu lassen. Wir wurden einig. Nach abgeschlossenem Geschäft setzten wir uns in den Schatten vor die Zollstation, aßen Brot und Früchte und tranken dazu den von Kostabar entdeckten Wein. Wie wir so dasaßen, sah ich plötzlich eine merkwürdige Prozession sich auf das Zollhaus zubewegen. Voran schritt ein Kerl, dem man schon von weitem ansah, daß er auf der Grenze zwischen normal und verrückt angesiedelt war. Hinter ihm humpelte ein zahnloser Alter, der sich mit Krükken fortbewegte. Danach tappte eine zerlumpte Gestalt den Weg entlang. Offensichtlich ein Blinder. Ein paar in Lumpen gekleidete Bettelkinder umgaben das Trio.

»Um Gottes willen!« stöhnte Kostabar. »Da kommen sie wieder. Das kommt eben davon, wenn man im Zollhaus Wein trinkt.«

»Wieso?« fragte ich. »Ich habe schon oft in Zollhäusern Wein getrunken.«

»Die wollen mittrinken und mitessen«, sagte Kostabar verzweifelt. »Immer kommen sie, wenn sie ahnen, daß hier jemand da ist. Sie sind wie Kletten. Ich kriege sie nicht mehr los.«

»Seit wann kommen sie?«

»Seitdem ich da bin. Oder genauer, seitdem Levi diese neuen Sitten hier einführte.«

Inzwischen hörte man von fern die Stimmen der herannahenden Gruppe. Einer von ihnen schrie herüber:

»Ist Jesus wieder da?«

»Was hat das mit Jesus zu tun?« fragte ich Kostabar.

»Mein Vorgänger Levi war ein Jesusanhänger. Er hatte Jesus kennengelernt, weil er oft hier vorbeikommt. Jesus ist ein regelmäßiger Grenzgänger. Er wechselt immer wieder über die Landesgrenze.«

»Warum?«

»Ich vermute, er fühlt sich in Galiläa nicht sicher. Vielleicht ist Antipas hinter ihm her. Daher verschwindet er immer wieder über die Grenze. Oft in das Gebiet des Herodes Philippus. Entweder kommt er hier vorbei oder er fährt mit dem Boot über den See, manchmal nachts, damit es keiner merkt. Manchmal zieht er sich auch in die angrenzenden Stadtgebiete zurück, nach Tyros und Sidon, Hippos und Gadara. Nicht in die Städte selbst, wohl aber in das umliegende Land, wo viele Juden wohnen.«

»Ich komme aus Sepphoris. Keiner kann sich bei uns erinnern, daß Jesus jemals in Sepphoris war, obwohl er aus einem kleinen Ort in der Nähe stammt.«

»Das paßt zu ihm: Er meidet die Städte. Er bewegt sich auf den Dörfern unter kleinen Leuten.«146

»Aber was hat das alles mit dieser verrückten Prozession da zu tun?«

Ich zeigte auf die Gruppe, die sich langsam dem Zollhaus näherte.

»Levi hatte, wie gesagt, Jesus kennengelernt und sich von seinen Lehren beeindrucken lassen. Er veränderte unter seinem Einfluß sein ganzes Verhalten. Es begann damit, daß er regelmäßig Essen für die Armen veranstaltete. Das sprach sich bald herum. Von überall strömten sie zu ihm. Aber das war nur der Anfang. Einmal, als Jesus vorbeikam, entschloß er sich, ihm nachzufolgen. Aber vorher wollte er noch ein großes Abschiedsmahl veranstalten. 147 Es muß eine denkwürdige Sache gewesen sein. Die Armen schwärmen noch heute davon. Jesus wird seitdem in unserer Gegend ›Fresser und Weinsäufer, Freund von Zöllnern und Sündern﹤ genannt.148 In der Tat war es eine irre Gesellschaft. Auch diese drei menschlichen Wracks, die du dort siehst, waren dabei. Es war das große Ereignis in ihrem Leben. Jetzt warten sie darauf, daß Jesus wiederkommt. Sie wissen, daß er öfter an dieser Stelle die Landesgrenzen passiert. Und jedesmal hoffen sie darauf, daß es wieder so ein Festessen gibt – hier im Zollhaus. Jedesmal fragen sie mich, wann ich denn mein großes Gastmahl gebe. Als wäre ich Levi.«

Inzwischen war die Gruppe näher gekommen. Man hörte ihre Stimmen deutlicher. Sie riefen mir zu:

»Bist du Jesus?«

Ich antwortete: »Ich bin nicht Jesus.«

»Gibst du uns zu essen und zu trinken?«

»Noch einmaclass="underline" Ich bin nicht Jesus!«

»Jeder ist Jesus, der uns zu essen und zu trinken gibt!«

Ich merkte: Man konnte nicht normal mit ihnen reden. Sie hatten sich im Kreis um uns herum gestellt und schauten erwartungsvoll unserem Essen zu. Die zerlumpten Kinder spielten zwischen ihnen herum. Ich sagte:

»Könnt ihr uns nicht in Ruhe lassen?«

Aber die Kinder kicherten und riefen:

»Hast du uns etwas mitgebracht?«

Kostabar flüsterte mir zu: »Um Gottes willen! Gib ihnen nichts! Sie kommen sonst immer wieder. Dir kann das ja egal sein. Du ziehst weiter. Aber ich habe sie immer am Hals. Ich kann sie nicht mehr loswerden.«

»Sollen wir ins Zollhaus gehen?«, schlug ich vor. »Vielleicht verschwinden sie dann wieder.«

Wir taten so, als beendeten wir unser Essen, und zogen uns ins Innere der Hütte zurück. Timon und Malchos mußten draußen bleiben, um auf Esel und Waren aufzupassen. Drinnen setzten wir uns auf Matten. Es war angenehm kühl in der Hütte. Kostabar sagte:

»Glaub nicht, daß diese Leute verhungern. Wir haben in Bethsaida eine Armenkasse.149 Auch ich zahle meinen Anteil, jedoch über einen anderen Mittelsmann. Davon ernähren wir diese Armen. Aber ihr großer Traum ist, daß dieser Jesus wieder vorbeikommt und ein großes Festessen hält. Fast jede Woche kommen sie und belagern mich.«

Wir hatten wieder zu essen und zu trinken begonnen. Mir war gar nicht wohl bei der Sache. Aber ich mußte zu Kostabar ein gutes Verhältnis gewinnen. Es war gewiß nicht das letzte Mal, daß ich bei ihm Waren verzollen mußte. Ich überlegte. Aber da wurden wir schon wieder gestört. Der zahnlose Alte hatte sich ans Fenster geschlichen. Er steckte seinen Kopf in die Hütte und fing an zu krächzen:

»Wenn du ein Essen gibst,

so lade nicht Freunde, Brüder, Verwandte und reiche Nachbarn ein,

damit sie dich wieder einladen werden,

so daß es sich für dich lohnt.

Sondern wenn du ein Essen gibst,

so lade Arme, Krüppel, Lahme und Blinde ein

und du wirst glücklich sein,

weil sie es dir nicht lohnen können.

Du erhältst deinen Lohn bei der Auferstehung der Gerechten!«150