Nachdem er diese Botschaft in den kleinen Raum hineingekrächzt hatte, zog er wieder den Kopf ein, und Kostabar erklärte:
»Das ist so ein Spruch Jesu, den sie mir regelmäßig vortragen. Paß auf, die Fortsetzung folgt gleich!«
Tatsächlich hörte man jetzt einen Chor von Stimmen. Sie skandierten einen Vers wie eine Parole bei einer Demonstration:
»Kommt her zu mir,
ihr Mühseligen und Beladenen!
Ich will euch Ruhe geben!
Kommt her zu mir,
ihr Mühseligen und Beladenen!
Ich will euch Ruhe geben!«151
Das wiederholten sie immer wieder. Es war kaum zum Aushalten. Schließlich stand Kostabar auf und ging nach draußen. Er verlor die Geduld. Ich hörte, wie er brüllte:
»Jetzt will ich euch Ruhe geben! Verschwindet sofort! Haut ab! Wir möchten jetzt unsere Ruhe haben!«
Der Chor verstummte. Nur eine Kinderstimme fragte: »Lädst du uns nun zum Essen ein?« Dann hörte man wieder die krächzende Stimme des Alten: »Kostabar, kennst du nicht das Gleichnis Jesu152:
Ein Mann veranstaltete ein großes Gastmahl und lud viele ein. Und zur Stunde des Gastmahls sandte er seinen Knecht, um den Eingeladenen zu sagen: Kommt, denn es ist nun bereit. Und alle fingen gleichermaßen an, sich zu entschuldigen. Der erste sagte zu ihm: Ich habe einen Acker gekauft und muß notwendig hinausgehen und ihn besichtigen; ich bitte dich, sieh mich als entschuldigt an! Und ein anderer sagte: Ich habe fünf Joch Ochsen gekauft und gehe hin, um sie zu prüfen; ich bitte dich, sieh mich als entschuldigt an. Noch ein anderer sagte: Ich habe eine Frau geheiratet und kann deshalb nicht kommen. Und der Knecht kam und berichtete dies seinem Herrn. Da wurde der Hausherr zornig und sagte zu seinem Knecht: Geh schnell hinaus auf die Straßen und Gassen der Stadt und führe die Armen und Krüppel und Blinden und Lahmen hierherein! Und der Knecht sagte: Herr, es ist geschehen, was du befohlen hast. Und es ist noch Raum vorhanden. Da sagte der Herr zu dem Knecht: Geh hinaus auf die Landstraßen und an die Zäune und nötige sie, hereinzukommen, damit mein Haus voll werde! Denn ich sage euch: Keiner jener Männer, die eingeladen waren, wird mein Gastmahl zu kosten bekommen.«
Ich merkte, wie alle dem Alten zuhörten. Auch Kostabar schien ihm zu lauschen. Als er geendet hatte, fügte er hinzu:
»Du hast das Gleichnis nicht zu Ende erzählt! Es geht noch weiter:
Als aber der Gastgeber hineinging, um die Gäste zu betrachten, sah er dort einen Menschen ohne anständige Kleidung, in Lumpen. Und er sagte zu ihm: Freund, wie bist du denn zu meinem Essen hereingekommen ohne anständige Kleidung? Der verstummte. Da sprach er zu den Knechten: Bindet ihm Hände und Füße und werf ihn hinaus in die Finsternis. Dort wird Heulen und Zähneklappern sein.*153
Die Stimme Kostabars wurde scharf und kalt: »So, und jetzt verschwindet endlich, sonst laß ich Soldaten holen, die euch an Händen und Füßen fesseln und ins Gefängnis werfen!«
Ein Kind protestierte: »Diesen Schluß hat Jesus nie erzählt. Den hast du dazugedichtet. Er ist falsch! Er ist eine Lüge!«
Kostabar fing zu wettern an: »Das ist der echte Schluß. Ihr werdet ihn gleich erleben. Weg mit euch, ihr ungewaschenes Pack! Schert euch zum Teufel!«
Ich saß im Inneren der Hütte wie auf Kohlen. Sollte ich hinauslaufen und die Lage entschärfen? Das Gleichnis hatte mich angesprochen. Das Kind hatte recht: Der von Kostabar hinzugesetzte Schluß paßte nicht. Aber ich verstand auch Kostabar: Regelmäßig von diesen Leuten heimgesucht zu werden, war eine Strafe!
Fürs erste hatte Kostabar Erfolg. Ich hörte, wie sich die Gruppe entfernte. Er kam herein:
»Sie gehen! Diese Leute sind eine Landplage. Früher waren sie froh, wenn man ihnen Brot zusteckte. Dann gingen sie. Aber seitdem Leute wie Jesus und Levi ihnen Hoffnungen machen, verhalten sie sich aufdringlich: Sie warten auf den großen Umschwung, auf das Reich Gottes. Dann würden sie an reich gedeckten Tischen mit Jesus sitzen, sie, die Humpelnden und Hinkenden, die Hustenden und Verhunzten. Dann würden sie an die Reihe kommen, um das Stückchen Glück zu genießen, das Gott für sie vorgesehen hat und das ihnen von Menschen hier verweigert wird. Mit solchen phantastischen Hoffnungen leben sie seitdem. Mit Ansprüchen, die kein Dorf, kein Staat, kein Mensch erfüllen kann. Mit Ansprüchen, die in eine andere Welt gehören, aber nicht in unser Land!«
»Die Kinder tun einem leid«, sagte ich. »Was können sie dafür, daß sie in Armut geboren sind.«
»Da hast du recht«, sagte Kostabar. »Meinst du, mir fällt es leicht, sie wegzuscheuchen? Aber was soll ich tun? Wenn ich hier einmal anfange, Essen für Bettler und Kinder zu geben, werden sie aus der ganzen Gegend zu mir strömen. Levi hat es gemacht. Er hat die Leute daran gewöhnt, daß es hier zu essen gibt. Manchmal denke ich, das ist der Grund, warum er verschwunden ist. Er hat es nicht mehr aushalten können. Möglicherweise hat er sich übernommen. Wie sollte er auf Dauer all diese Leute unterhalten? Vielleicht hatte er nur die Wahclass="underline" entweder bankrott zu gehen oder das Zollgeschäft aufzugeben! Wie dem auch sei, er ist verschwunden. Er ist Jesus nachgefolgt. Verstehst du, daß ich nicht in seine Situation kommen möchte. Ich möchte mich und meine Familie mit diesem Zollgeschäft ernähren. Ich kann nicht einfach verschwinden. Ich kann nicht wie Levi durch Wohltätigkeit mein Geschäft ruinieren. Ich kann nur meinen Anteil in die Armenkasse tun. Mehr ist nicht drin.«
Es war schon spät. Wir mußten aufbrechen, um rechtzeitig in Bethsaida anzukommen. Langsam trotteten wir auf unseren Eseln den Uferweg entlang. Der galiläische See glitzerte in der Sonne. Die Berge hoben sich wie blasse Schatten von ihm ab. Es war ein friedlicher Spätnachmittag.
Plötzlich tauchten die Bettelkinder auf, die wir am Zoll getroffen hatten. Sie hielten sich an ihren Händen und versperrten uns den Weg.
»Was macht ihr denn?« fragte ich.
»Wir spielen Zöllner.«
»Welche Grenze ist denn hier?«
»Hier beginnt das Königreich Gottes!«
Ich wollte schon ärgerlich aufbrausen. Doch ich bremste mich. Warum sollte ich diesen Kleinen nicht einen Gefallen tun? Ich spielte also mit.
»Was muß man denn tun, um in euer Reich hineinzukommen?«
Die Kinder lachten. Das Älteste sagte:
»Wenn ihr nicht wieder werdet wie Kinder,
werdet ihr nicht in die Gottesherrschaft kommen!«154
»Wer herrscht in eurem Reich?«
»Wir herrschen in diesem Reich. Die Kinder. Uns gehört die Königsherrschaft Gottes.«155
»Und was muß ich als Zoll bezahlen?«
»Gib uns etwas zu essen!«
»Ist das der ganze Zoll?«
»Es gibt kein Königreich, das du so leicht betreten kannst. Du mußt nur etwas von dem abgeben, was du besitzt. Dann gehörst du zu ihm.«
Ich wußte nicht, ob das Ganze Spiel oder Ernst war. Ich sagte:
»Abgemacht! Hier ist der Zoll für euer Königreich.«
Und ich gab ihnen ein paar Fladen Brot zusammen mit Früchten. Ihre Augen strahlten. Sie machten den Weg frei. Wir durften passieren. Auch diese Grenze hatten wir überschritten.
Lieber Herr Kratzinger,
daß Ihnen das letzte Kapitel gefallen hat, freut mich natürlich. Ihre strengen wissenschaftlichen Maßstäbe veranlassen Sie aber zu der Frage, ob die Überlieferung vom Zöllnergastmahl (Mk 2,15-17) nicht Ausdruck von Gemeindeproblemen ist: Man brauchte im Urchristentum eine Geschichte, in der Jesus mit Zöllnern und Sündern zusammen ißt. So konnte man das gemeinsame Essen von Heiden- und Judenchristen in den Gemeinden auch dann rechtfertigen, wenn die Heiden jüdische Speisegebote nicht einhielten. Das Problem wurde Ende der 40er Jahre in Antiochien akut (vgl. Gal2,11ff). Entstand die Geschichte, um dies Problem zu lösen?