Die Geschichte setzt eine Zollstation am galiläischen See (in Kapernaum) voraus. Das kann nur eine Grenzstation sein: Zwischen Kapernaum und Bethsaida verlief zur Zeit Jesu eine Grenze, die im Laufe des 1. Jahrhunderts verschwand. Sie existierte nicht von 39-44 n.Chr., als Agrippa I. die Landesteile östlich und westlich des Jordans vereinte. Sie entfiel unter seinem Sohn Agrippa II. von 54 n.Chr. an bis zum Ende des Jahrhunderts. Die zehn Jahre zwischen 44 und 54 sind schwer zu beurteilen. Wahrscheinlich waren beide Landesteile in einer römischen Provinz vereint. Das heißt: Die Geschichte vom Zöllnermahl setzt vermutlich Verhältnisse voraus, die zur Zeit Jesu vorhanden waren, die aber nach 39 n.Chr. nicht mehr galten. Sie führt uns in die 30er Jahre zurück. Damit kommen wir in eine Zeit, in der das gemeinsame Essen von Juden und Heiden in den urchristlichen Gemeinden noch kein Problem war. Zur Zeit des Apostelkonzils (in den 40er Jahren) ist es auf jeden Fall noch nicht akut.
Könnte es also sein, daß die Überlieferung vom Zöllnergastmahl eine historische Erinnerung bewahrt? Daß sie später gebraucht wurde, um Probleme beim gemeinsamen Mahl in der Gemeinde zu lösen, sei unbestritten!
Ich bleibe
mit herzlichen Grüßen
Ihr Gerd Theißen
13. KAPITEL
Eine Frau protestiert
Obwohl wir überall nach Jesus fragten, sind wir ihm nirgendwo begegnet. Wir fanden ihn weder auf dem Weg nach Bethsaida noch auf dem Rückweg, als wir den galiläischen See entlang nach Tiberias zogen. Alle hatten wohl von ihm gehört, viele ihn gesehen. Fast schien es, als sei er überall gewesen. Wenn man den Gerüchten über seinen jeweiligen Aufenthaltsort glaubte, hätte man annehmen können, er bewege sich unglaublich schnell von Ort zu Ort. Kein Wunder, daß uns jemand erzählte, er könne über Wasser laufen.156 Deswegen tauchte er an manchen Orten unvermutet auf und sei bald wieder verschwunden. Ein anderes Rätsel war, wie er so viele Leute ernähren konnte, die mit ihm durchs Land zogen. Das Volk raunte sich zu, er könne Brot vermehren. An einem Ort erzählte man von sieben Broten für 4000 Leute. An einem anderen Ort waren es fünf Brote für 5000.157 Natürlich glaubte ich kein Wort davon. Bei diesem Jesus schien alles möglich. Das Volk meinte wohclass="underline" Wenn jemand Kranke gesund macht, dann ist ihm alles zuzutrauen. All diese Wundergeschichten konnten nur entstehen, weil er schon im Rufe eines Wundertäters stand.
Für eines dieser Wunder habe ich vielleicht eine Erklärung gefunden, bin mir aber nicht sicher. Als wir nach Tiberias kamen, brachten wir unser Gepäck in unsere dortige Filiale. Timon und Malchos blieben zurück. Ich begab mich zum Hause des Chusa. Es war ein modernes Haus im griechisch-römischen Sticlass="underline" Mehrere Zimmer umgaben ein Atrium mit Säulen. In einem zweiten Stockwerk lag ein Aufenthaltsraum, der einen herrlichen Blick über den galiläischen See freigab. Dort saß ich mit Johanna und wartete auf Chusa, der jeden Moment von den Landgütern des Antipas zurückkehren mußte.
Ich lenkte das Gespräch bald auf Jesus. Johanna hatte mir ja als erste von ihm erzählt. Ich traute meinen Ohren nicht, als ich hörte, sie würde Jesus unterstützen. Unbefangen erzählte sie:
»Ich schicke ihm Geld und Lebensmittel.158 Mein Mann weiß es nicht. Du darfst ihm nichts verraten. Wenn es möglich ist, suche ich Jesus auf, um seine Worte zu hören.«
Alle Anhänger Jesu, die ich bisher getroffen hatte, waren kleine Leute. Johanna aber gehörte zur Oberschicht. Ich fragte:
»Gibt es noch andere wohlhabende Leute, die ihn unterstützen?«
»Einige wenige. Er erhält von überall Unterstützung.«
»Aber dann stimmt ja nicht, was die Leute erzählen: Er würde mit magischen Fähigkeiten seine Anhänger ernähren! Ich habe ganz unwahrscheinliche Geschichten gehört. Er soll sogar Brot vermehrt haben!«
»Die Leute erzählen viel. Ich kann dir nur sagen, was ich weiß: Wenn ich oder andere ihm Lebensmittel schicken, Brote, Fische und Früchte, und meine Leute holen sie plötzlich heraus, dann erscheint es der Menge wie ein Wunder, daß so viel zu essen vorhanden ist. Diese armen Leute haben oft noch nie so viel Lebensmittel auf einmal gesehen. Wenn man so will, geschieht auch tatsächlich ein Wunder.«
»Wieso?«
»Wenn die Leute erst einmal glauben, daß genügend Brot für alle da ist, verlieren sie die Angst vor dem Hunger. Dann holen sie die Brotreserven heraus, die sie versteckt hielten, um nicht mit anderen teilen zu müssen. Sie geben von ihrem Brot ab. Sie haben keine Angst mehr, zu kurz zu kommen.«
»Meinst du, die Geschichte von der wunderbaren Brotvermehrung läßt sich so erklären?«
»Nicht direkt. Man kann nicht sagen: Hier oder dort ist sie geschehen. Die Leute erleben immer wieder bei Jesus, daß er in überraschender Weise Unterstützung findet, ohne zu arbeiten, zu betteln oder zu organisieren!«
»Aber könnte dann nicht einer auf den Gedanken kommen, man müsse überall im Land das Brot gleichmäßig verteilen?«
»Natürlich! Die Leute hoffen darauf. Einige erwarten sehnsüchtig, daß Jesus als Messias hervortritt. Daß er Gerechtigkeit herstellt. Daß er für Fruchtbarkeit sorgt. Daß er alles zum Guten wendet und die Römer vertreibt.«159
»Aber dann ist er ja gefährlich!«
Ich konnte nicht ausreden. Wir hörten Chusa kommen. Wir begrüßten uns herzlich. Nachdem er sich gesetzt hatte, kam ich direkt zur Sache:
»Alle Leute in Galiläa reden von Jesus. Er ist das große Gespräch. Was hältst du von ihm? Ist er ein Unruhestifter? Ein Rebell?«
Chusa antwortete: »Herodes Antipas macht sich Sorgen. Er hat ein schlechtes Gewissen wegen der Hinrichtung des Täufers. Keines seiner Probleme ist geringer geworden. Einmal äußerte er die unsinnige Vermutung, Jesus sei der Täufer, der von den Toten auferstanden sei; daher wirkten Wunderkräfte in ihm.160 Er hat Angst. Er wird fast abergläubisch und glaubt sogar an die Auferstehung der Toten!«
»Aber daran glauben auch die Pharisäer und viele andere.«
»Wir aber nicht. Antipas und ich sympathisieren mit der sadduzäischen Glaubensrichtung.161 Wir Sadduzäer glauben, daß die Seelen zusammen mit dem Körper zugrunde gehen. Wir lehnen die Erwartung einer neuen und besseren Welt ab. Unsere Lehre hat nur wenige Anhänger, meist Leute in hohen Positionen. Die Pharisäer haben dagegen ihre Anhänger in der Unterschicht. Sie glauben an die Unsterblichkeit der Seele und an Lohn und Strafe im jenseits je nach Lebensführung. Dieser Jesus und seine Leute stehen den Pharisäern näher als uns.«
»Aber die Pharisäer sind politisch keine Gefahr. Sie sind im Synhedrium vertreten.162 Sie arbeiten zusammen mit den Behörden. Es gibt wohl ein paar Extremisten unter ihnen, die sich den Zeloten angeschlossen haben. Aber das sind Ausnahmen. Glaubst du, daß Jesus zu diesen Extremisten gehört?«
»Nein, ich halte Jesus für einen harmlosen Spinner. Man könnte ihn vergessen, wenn es nicht so viele Leute gäbe, die in ihm einen Propheten oder gar den Messias sehen. Diese Leute sind unser Problem – nicht Jesus. Besonders diejenigen, die ihn unterstützen. Gäbe es nicht immer wieder einige verschrobene Leute, die ihm Geld und Lebensmittel schickten, so wäre diese Bewegung von Edel-Landstreichern schon lange in sich zusammengebrochen. So aber verkaufen sie ihre Ideen erfolgreich und können sogar davon leben!«
Johanna war rot geworden. Sie schluckte, war aber sichtlich bemüht, sich nichts anmerken zu lassen. Ihre Stimme klang heiser:
»Aber vielleicht sind die Ideen gar nicht so schlecht?« Chusa kam nun erst recht in Schwung. Er wurde laut:
»Gute Ideen? Was predigt denn dieser Weltuntergangsprophet? Die Gottesherrschaft! Alles soll anders werden. Das ewige Leben soll bald beginnen! Hast du schon einmal darüber nachgedacht, warum diese Ideen beim einfachen Volk so beliebt sind? Warum wir Sadduzäer nur in der Oberschicht Anhänger finden mit unserer Lehre: ›Es geht dem Menschen wie dem Tier: Wie es stirbt, so stirbt er auch‹?163 Nur wir machen uns keine Illusionen über den Menschen und den Tod. Nur wir geben den einzig realistischen Rat fürs Leben: ›Geh hin und iß dein Brot mit Freuden, trink deinen Wein mit gutem Mut. So gefällst du Gott!‹164 Wir sind fast die einzigen, die nicht an die Auferstehung oder die Unsterblichkeit glauben.«