Johanna warf ein: »Aber selbst Herodes Antipas kann nicht so recht glauben, daß Johannes der Täufer endgültig tot ist!«
»Das ist ja gerade der Skandal! Wie kann er sich solchem Aberglauben hingeben!« warf Chusa ein. »Die kleinen Leute klammern sich an diesen Aberglauben. Sie haben nichts, was sie genießen können. Sie haben nur Arbeit, Sorge und Plackerei. Darum trösten sie sich mit der Hoffnung auf ein besseres Jenseits, in dem alle zu essen haben. Diese Hoffnungen sind kranke Hoffnungen. Sie stammen aus einem kranken Leben. Jesus spinnt diese kranken Gedanken weiter. Er gibt den Leuten ihre Träume. Er ruft ihnen zu:
Kommt her zu mir,
ihr Mühseligen und Beladenen!
Ich gebe euch Ruhe!165
Lassen wir ihn bei den Mühseligen und Beladenen. Mag er dort seine verrückten Ideen verbreiten. In unserem Leben haben sie nichts zu suchen.«
Johanna war aufgesprungen. Ihr Gesicht glühte vor Erregung:
»Hör auf, Chusa! Ich kann das nicht mit anhören! Vielleicht haben wir Frauen mehr Verständnis für die Träume und Hoffnungen kleiner Leute als ihr Männer. Was du sagst, stimmt nicht!«
Chusa wurde trotzig: »Stimmt es nicht, daß er die Leute auf die Gottesherrschaft vertröstet? Wie so viele andere vor ihm?«
Johanna erwiderte: »Viele haben die Gottesherrschaft ersehnt. Jesus aber sagt: Jetzt beginnt sie. Man muß nicht bis auf einen fernen Tag warten. Einer fragte ihn einmal, wann die Gottesherrschaft kommt. Da sagte er:
Die Gottesherrschaft kommt nicht so,
daß man sie aufgrund äußerer Zeichen voraussagen kann.
Auch wird man nicht sagen können:
›Sie ist hier!‹ oder ›Sie ist dort!‹
Sieh doch, die Gottesherrschaft ist in euch.166
Jemand zweifelte daran, ob sie denn schon da sein könne, obwohl man sie nicht sieht. Da antwortete er:
Wenn ich mit dem Geist Gottes die Dämonen austreibe,
dann ist die Gottesherrschaft schon bei euch angekommen!«167
Chusa ließ nicht locker: »Genau das meine ich! Womit macht er Hoffnung? Mit Wundern! Mit Magie! Die kleinen Leute mißtrauen ihren eigenen Kräften. Daher sehnen sie sich nach den großen Wundertätem. Die sollen vollbringen, was sie sich nicht zutrauen. Deswegen erdichten sie lauter Geschichten über Jesus – Geschichten, die er nie getan hat. Vor kurzem erzählte mir jemand eine Wundergeschichte von ihm, die ich schon vorher von einem Syrer gehört habe:168
Du kennst doch diesen Syrer, der Leute beiseite nimmt, die vor dem Mond niederfallen, die Augen verdrehen und den Mund voll Schaum haben. Er richtet sie auf und schickt sie gesund weg, nachdem er sich einen großen Lohn hat zahlen lassen. Das Ganze geht so: Wenn er vor dem am Boden Liegenden steht und fragt, woher der Dämon in den Leib gefahren ist, schweigt der Kranke. Für ihn antwortet aber der Dämon in Griechisch oder einer anderen ausländischen Sprache, je nach dem Land, woher er kam, bevor er in den Menschen gefahren war. Der Syrer aber führt Beschwörungen aus. Wenn der Dämon nicht gehorcht, so bedroht er ihn kräftig und treibt ihn so aus.« Und dann fügte mein Gesprächspartner augenzwinkernd hinzu: »Ich sah selbst einen ausfahren von schwarzer und rauchiger Farbe!«
Ich mußte lachen. Auch Johanna schmunzelte. Dann aber wurde sie ernst:
»Hast du dir die Geschichten von Jesus angehört? Sie klingen ähnlich. Aber Jesus verlangt keinen Lohn für seine Heilungen. Und was noch wichtiger ist: Er weiß, daß die Leute einen übertriebenen Wunderglauben haben, weil sie ihren Kräften mißtrauen. Darum betont er oft: ›Dein Glaube hat dich geheilt!‹ 169 Er sagt ausdrücklich: Nicht ich habe das Wunder getan; in dir selbst steckt die Kraft, gesund zu werden. Er will diese kleinen Leute von ihrem abergläubischen Mißtrauen gegen sich heilen!«
Chusa antwortete: »Aber redet er ihnen nicht ein: Dies Leben hier sei wertlos? Das gute Leben beginne erst später?«
Wieder protestierte Johanna: »Jesus sagt das Gegenteil. Jetzt sei die erfüllte Zeit. Jetzt sei eine Zeit der Freude. Darum sei es jetzt so unmöglich zu fasten wie bei einem Hochzeitsmahl.170 So glücklich könne man jetzt sein. Einmal rief er den Leuten zu:
Glücklich sind eure Augen,
weil sie sehen, was ihr seht.
Ich sage euch:
Viele Propheten und Könige wollten sehen,
was ihr seht, und sahen es nicht,
und wollten hören, was ihr hört,
und hörten es nicht.171
Was sagt er denn anders als: Euer Leben ist mehr wert als das von Königen und Propheten. Ihr seid glücklicher als sie. Glücklicher als die Königin von Saba, die von weit her gereist kam, um Salomos Weisheit zu hören.«172
Chusa war noch immer nicht überzeugt: »Du stellst die Dinge auf den Kopf. Dieser Jesus gibt den Leuten ein illusionäres Selbstbewußtsein. Sie sind arme Schlucker, aber bilden sich ein, mehr wert zu sein als Könige. In ihrem alltäglichen Leben müssen sie sich dennoch weiter ducken. Lehrt dieser Jesus nicht, man dürfe sich nicht wehren? Lehrt er nicht eine typische Kleine-Leute-Moral? Eine Moral von Menschen, die alles einstecken müssen?«
Johanna gab nicht auf. Sie wurde noch leidenschaftlicher:
»Was euch an diesem Jesus irritiert, ist genau das Gegenteil einer beschränkten Kleine-Leute-Moraclass="underline" Er bringt den kleinen Leuten Haltungen bei, die bisher euer Privileg waren!
Ist es nicht das Privileg der Oberschicht, ohne Sorgen leben zu können? Jesus aber sagt: Dies Privileg ist für alle da, auch für die, die nichts haben:
Sorget nicht für euer Leben,
was ihr essen oder was ihr trinken sollt,
noch für euren Leib, was ihr anziehen sollt.
Ist nicht das Leben mehr wert als die Speise
und der Leib mehr wert als die Kleidung?
Schaut die Vögel unter dem Himmel,
sie säen nicht, sie ernten nicht,
sie sammeln nicht in Scheunen.
Und euer Vater im Himmel ernährt sie doch.
Um wieviel unterscheidet ihr euch von ihnen!173
Ist das Kleine-Leute-Moral? Jesus selbst vergleicht diese sorglosen Leute mit Salomo: Wenn die Lilien auf dem Feld schon prächtiger als König Salomo gekleidet sind, um wieviel mehr die Menschen!
Und ist es nicht ein Privileg der Mächtigen, daß sie ihre Feinde nicht fürchten müssen? Die Mächtigen dürfen großzügig sein. Denn sie wissen: Ihre Feinde können ihnen nicht schaden, sondem müssen sich mit ihnen arrangieren. Jesus aber sagt zu allen, nicht nur zu den Mächtigen:
Liebet eure Feinde
und betet für eure Verfolger,
damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet!174