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Alle sollen Söhne Gottes sein. Früher nannte man nur die Könige Israels Söhne Gottes. Jesus aber nennt jeden so, der großzügig gegenüber seinen Feinden ist. jeder ist dann ein König.

Und ist es nicht ein Privileg der Mächtigen, Gesetze geben zu können und alte außer Kraft zu setzen? Was tut Jesus? Er definiert neue Gesetze. Er sagt:

Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt wurde:

Du sollst nicht töten!

Wer aber tötet, ist des Gerichts schuldig!

Ich aber sage euch:

jeder, der seinem Bruder zürnt,

ist des Gerichts schuldig!175

Chusa war blaß geworden. Mühsam stieß er hervor:

»Aber warum vertritt er seine Lehre nur im einfachen Volk? Warum kommt er nicht nach Tiberias? Warum belehrt er nicht Antipas? Ich weiß nur eine Antwort: Er träumt die Träume kleiner Leute.«

Johanna stimmte ihm zu: »Natürlich träumt er die Träume kleiner Leute. Er wendet sich nicht an die Reichen und Mächtigen. Aber was will er denn? Diese kleinen Leute sind geduckte Menschen. Er will, daß sie aufrecht gehen. Sie sind von Sorgen zermürbte Menschen. Er will, daß sie von Sorgen frei sind. Sie sind Menschen, die ihr Leben nicht als etwas Bedeutendes erleben. Er gibt ihnen das Bewußtsein, ihr Leben sei etwas wert. Und davor habt ihr alle Angst. Ihr alle und Herodes Antipas, ihr habt Angst davor, die kleinen Leute könnten auf den Gedanken kommen, daß sie keine kleinen Leute sind. Darum habt ihr das Gerücht ausstreuen lassen, ihr wolltet Jesus töten. Damit er über die Grenze verschwindet. Damit er euch in Ruhe läßt. Damit die kleinen Leute nicht auf rebellische Gedanken kommen und euch gefährlich werden!«

Chusa versuchte abzubiegen: Er lehnte sich lächelnd zu mir herüber:

»Du hast mich eben gefragt, ob dieser Jesus ein Unruhestifter und Rebell ist. Eins steht fest: Meine Frau hat er schon rebellisch gemacht!«

Johanna zögerte etwas und dann sagte sie leise: »Nein, du hast mich rebellisch gemacht!«

»Ich?« fragte Chusa erstaunt.

»Als du am Anfang über Jesus und seine Ideen herzogst, hast du mich verletzt!«

»Ich konnte nicht wissen, wie wichtig dir diese Ideen sind!«

»Chusa, ich hatte Angst, du könntest mich verachten!«

»Wieso?« Chusa verstand seine Frau noch immer nicht.

»Verachtest du nicht verschrobene Frauen?«

»Aber ich habe dich nie für verschroben gehalten! Nicht im Traum!« beteuerte Chusa.

»Aber du machst dich über verschrobene Leute lustig, die Jesus Geld und Lebensmittel schicken!«

Chusa blieb der Mund offen stehen: »Willst du damit sagen, daß...«

Johanna nickte: »Ich will damit sagen, daß ich Jesus unterstütze.«

»Wie konnte ich das ahnen!«

Es entstand eine Pause. Dann sagte Johanna leise: »Ich habe es heimlich getan. Ich wagte nicht, dir davon zu erzählen. Ich wollte nicht, daß du mich verachtest.«

Chusa schaute sie betroffen an: »Das darfst du von mir nicht denken! Wenn du ihn schätzt – eher würde ich mein Urteil über Jesus ändern als dich verachten!«

»Aber wenn man dich über ihn spotten hört...«

 

Ich atmete auf. Ich hatte die Auseinandersetzung in Gang gesetzt, aber dann mit dem unbehaglichen Gefühl dessen verfolgt, der eigentlich abwesend sein sollte. Ich verabschiedete mich und ließ die beiden allein. Überall, wohin ich kam, gab es Streit um Jesus. Überall gab es eine Krise zwischen Eltern und Kindern, Mann und Frau, Freunden und Nachbarn, ja selbst zwischen Zöllnern und Geschäftsleuten. Dieser Wanderprediger brachte alles durcheinander.

Ich ging noch ein wenig am Ufer des Sees spazieren. Kein Wind bewegte seine Oberfläche. Alles spiegelte sich klar in ihm wider: die Golanberge in der Ferne, von oben still stehende Wolkenstreifen, die abendliche Färbung des Himmels. Ich sah meinen Schatten im See. Aber ansonsten spiegelte sich nichts von mir in dieser Ruhe. Fremd stand ich ihr gegenüber. Meine Gedanken schweiften unruhig hin und her. Ich schaute in die Richtung, wo Kapernaum lag. Irgendwo dort mußte Jesus jetzt sein!

Als ich zu meiner Unterkunft zurückging, kam ich noch einmal an Chusas Haus vorbei. Von ferne hörte ich seine Stimme. Er sang eines seiner Lieblingslieder, ein Lied Salomos. Leise summte ich Text und Melodie mit:176

»Leg mich an dein Herz

wie das Siegel eines Ringes!

Nimm mich an deinen Arm

wie einen Spangenreif!

Denn stark wie der Tod ist die Liebe,

Leidenschaft ist unerbittlich

wie die Unterwelt.

Ihre Glut

ist eine geheimnisvolle Glut

ihre Flammen sind wie Flammen des lebendigen Gottes.

Kein Wasser kann sie löschen,

auch keine Ströme.

Käme einer, und wollte sie kaufen

und gäbe alle Reichtümer hin -

man würde ihn verachten!«

Wie schön war dieses Lied! Wollte Chusa mit ihm Johanna versöhnen? Oder sang er nur seinen Schmerz in den Abend? Fest stand nur: Es war eine Botschaft an Johanna. Und ich war sicher, sie würde antworten.

Es war dunkel geworden. Die Luft blieb so warm wie am Tag. Es wurde stiller. Aber in mir blieb alles unruhig. Ich legte mich auf mein Bett, doch konnte ich keinen Schlaf finden. Es war nicht die Hitze, die mich wach hielt. Es war der Streit um Jesus. Viele Stimmen schwirrten durch mein Inneres. Ich hörte die Stimme Johannas und Chusas, die Stimme des Zöllners, der Bettler, der Kinder, die Stimme Barabbas’. Fremde Stimmen nahmen meine Träume und Gedanken in Beschlag. Ich versuchte, sie wegzudrängen und in den Tiefen des beginnenden Schlafes untergehen zu lassen. Aber es gelang nicht. Denn es waren keine fremden Stimmen mehr. Es waren die Stimmen meines Inneren, meine eigenen Gedanken und Gefühle, meine Ängste und Hoffnungen. Der Streit um Jesus war ein Streit in mir selbst, die Auseinandersetzung um ihn eine Auseinandersetzung mit mir selbst. In mir war etwas, das von ihm abgestoßen und angezogen wurde. In mir war etwas, das seine Ideen verspottete und von ihnen fasziniert war. Ich fürchtete die von ihm ausgehende Unruhe und sehnte mich nach ihr, als läge Hoffnung darin. So schwankte sein Bild hin und her.

Gegen Morgen schlief ich unruhig ein. Als ich aufwachte, hatte ich das unbestimmte Gefühl, als hätte sich in meinem Leben etwas verändert.

Lieber Herr Kratzinger,

 

gerne denke ich an unsere Gespräche auf der jüngsten Neutestamentlertagung zurück. Mir ist klar geworden, daß Sie keine radikale Skepsis vertreten, sondern Jesusüberlieferung als historisch anerkennen, sofern sie weder aus Judentum noch Urchristentum ableitbar ist und sofern sie zusammen mit den so erkannten historischen Überlieferungen ein widerspruchsfreies Bild ergibt. Sie berufen sich auf das in der Jesusforschung übliche Differenz- und Kohärenzkriterium.

Sie erkennen, daß das letzte Kapitel ein kohärentes Bild der Verkündigung Jesu entwirft. Immer wieder zeigt Johanna, daß Jesus Einstellungen und Verhaltensweisen der Oberschicht für kleine Leute beansprucht, z.B. materielle Sorgenfreiheit für Besitzlose, Weisheit für Ungebildete. Er vollzieht eine »Wertrevolution«, eine Aneignung von Oberschichtwerten durch die Unterschicht.

Sie wenden mit Recht ein, daß die innere Kohärenz eines Jesusbildes nicht seine Geschichtlichkeit garantiere. Man müsse zuerst einen festen Ausgangspunkt von historischen Eckdaten haben, ehe man fragen kann: Was paßt zu ihnen?

Als solche Eckdaten würde ich nicht nur die aus Judentum und Urchristentum unableitbaren Überlieferungen nehmen. Zwei Eckdaten stehen in jedem Fall fest: Jesus begann als Anhänger Johannes des Täufers, der später hingerichtet wurde. Und Jesus endete selbst am Kreuz. Zwischen diesen Eckdaten muß seine Verkündigung Platz finden.