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Und nun frage ich Sie: Paßt das im letzten Kapitel skizzierte Bild von Jesus nicht ausgezeichnet zu diesen Eckdaten? Der Täufer steht in Opposition zur Aristokratie. Sein Schüler will in einer »Wertrevolution« für das Volk zugänglich machen, was sonst nur »oben« zu finden ist. Er endet wie so mancher Revolutionär am Kreuz.

Beruht die innere Stimmigkeit dieses Jesusbildes darauf, daß ich aufgrund meiner Wertungen aus den Überlieferungen ausgewählt habe, was mir paßt? Hat ein Jesusbild historischen Wert, das unerklärt läßt, warum der Täufer und Jesus durch die herrschende Schicht hingerichtet wurde? Sie haben richtig erkannt, daß auch ich für einen Ausgleich zwischen den Schichten plädiere. Aber es ist offen, ob Jesus mich dabei als seinen Bundesgenossen vereinnahmt hat oder ich ihn.

 

Mit herzlichen Grüßen

bin ich

Ihr

Gerd Theißen

14. KAPITEL

Bericht über Jesus oder: Jesus wird getarnt

Nie bin ich Jesus auf meinen Reisen durch Galiläa begegnet. Überall fand ich nur Spuren von ihm: Anekdoten und Erzählungen, Überlieferungen und Gerüchte. Er selbst blieb ungreifbar. Aber alles, was ich von ihm hörte, paßte zusammen. Selbst absolut übertriebene Geschichten von ihm hatten eine charakteristische Prägung. Über keinen anderen hätte man sie in dieser Weise erzählt.

Mein Auftrag war herauszufinden, ob Jesus ein Sicherheitsrisiko war. Hier gab es keinen Zweifeclass="underline" Er war ein Risiko. Jeder, der eher seinem Gewissen folgt als Vorschriften und Gesetzen, jeder, der die bestehende Verteilung von Macht und Besitz nicht für endgültig hält, jeder, der kleinen Leuten das Selbstbewußtsein von Fürsten verleiht, ist ein Sicherheitsrisiko.

Von all dem würde ich den Römern nichts erzählen. Ich fühlte mich nicht verpflichtet, ihren Auftrag auszuführen. Wenn es schon in unserer Hand lag zu entscheiden, ob man das Gebot Gottes zur Sabbatruhe einhalten solle oder nicht – um wie viel mehr mußte das für Aufträge der Römer gelten!

Doch wie sollte ich Jesus tarnen? Wie sollte ich aus einem Rebellen einen harmlosen Wanderprediger machen? Was ich erzählte, mußte ja zutreffen. Metilius würde gewiß auch aus anderen Quellen Informationen über Jesus bekommen. Vielleicht würde er ihm einmal begegnen. Ich mußte die Wahrheit erzählen – aber es durfte nur die halbe Wahrheit sein, nur gerade so viel, um die ganze Wahrheit zu verhüllen. Lange grübelte ich über dies Problem nach.

Endlich kam mir eine Idee. Ich mußte Jesus so darstellen, daß er für die Römer eine vertraute Gestalt wurde, jemand, der in ihre Vorstellungen paßte. Wenn wir die religiösen Strömungen in unserem Land für Ausländer verständlich machen, vergleichen wir sie gerne mit Philosophenschulen: die Pharisäer mit Stoikern, die Essener mit Pythagoräern, die Sadduzäer mit Epikuräern.177 Warum sollte ich Jesus nicht als Wanderphilosophen der kynischen Schule darstellen?178 War er nicht tatsächlich ein Wanderphilosoph?

Überhaupt mußte ich seine Lehren so darstellen, daß sie an möglichst vielen Punkten mit Aussagen griechischer und römischer Schriftsteller übereinstimmten. So etwas mußte beruhigend wirken! Vielleicht konnte man ihn auch als Dichter »verkaufen«? Erzählte er nicht viele Gleichnisse und Parabeln? Mir wurde klar: Ich mußte möglichst viele Analogien zu seinen Aussprüchen finden.

Eine große Fleißarbeit lag vor mir. Ich kehrte nach Sepphoris zurück, übergab die Geschäfte an Baruch und las statt dessen alle Bücher, die ich nur auftreiben konnte. Überall suchte ich nach Aussagen, die mit den Lehren Jesu vergleichbar waren. Als ich genug Material beisammen hatte, begann ich, einen kleinen Bericht für Metilius zu schreiben.

ÜBER JESUS ALS PHILOSOPHEN

Jesus ist ein Philosoph vergleichbar den kynischen Wanderphilosophen. Er lehrt wie sie äußerste Bedürfnislosigkeit, zieht ohne festen Wohnsitz durch das Land, lebt ohne Familie, ohne Beruf und Besitz. Von seinen Schülem verlangt er, daß sie ohne Geld, ohne Schuhe, ohne Rucksack und mit einem Hemd auskommen.179

Er lehrt, daß Liebe zu Gott und zu den Mitmenschen die wichtigsten Gebote sind und alle Forderungen an den Menschen zusammenfassen. Das entspricht griechischer Tradition: Frömmigkeit gegenüber Gott und Gerechtigkeit gegenüber den Menschen gelten in ihr als die wichtigsten Tugenden.180

Für das Verhältnis zu anderen Menschen ist ihm die »Goldene Regel« Richtschnur: Handelt gegenüber anderen so, wie ihr von ihnen behandelt werden wollt. Diese Regel ist in der ganzen Welt verbreitet. Viele Weise vertreten sie.181

Erleidet man Unrecht durch andere Menschen, so sagt er: Wenn dich jemand auf die Backe schlägt, halte ihm auch die andere hin.182 Er ist also der Meinung des Sokrates, man solle lieber Unrecht leiden als Unrecht tun.183

Er lehrt ferner: Seine Feinde solle man lieben. Denn auch Gott lasse seine Sonne über Gute und Böse scheinen. Ähnlich schreibt Seneca: Wenn du die Götter nachahmen willst, erweise auch Undankbaren Wohltaten, denn auch für Verbrecher geht die Sonne auf und für Piraten stehen die Meere offen!184

Wenn man andere Unrecht tun sieht, solle man nicht vorschnell verurteilen. Niemand sei vollkommen. Jeder stehe in der Gefahr, den Splitter im Auge des Bruders zu sehen, den Balken im eigenen Auge aber zu leugnen.185

Über den Besitz lehrt er, daß wir nicht nur bereit sein sollen, uns äußerlich von ihm zu trennen. Wir sollen auch innerlich frei von ihm werden, indem wir die Sorgen überwinden, mit denen er uns an sich fesselt. 186 Seine Lehre erinnert an Diogenes in der Tonne, der allen Besitz verachtete.

Über aggressive Handlungen lehrt er, daß nicht nur schuldig ist, wer jemanden tötet, sondern auch wer einen anderen haßt. Das erinnert an die Lehre des Philosophen Kleanthes. Schon wer die Absicht habe zu rauben und zu töten, sei ein Räuber. Das Böse beginne mit der Absicht.187

Über den Ehebruch lehrt er, daß man nicht erst die Ehe bricht, wenn man mit einer anderen Frau schläft, sondern schon, wenn man mit ihr schlafen möchte. Auch das erinnert an Kleanthes: Wer eine Begierde in sich zulasse, werde bei passender Gelegenheit auch die Tat tun.188

Über die Aufrichtigkeit lehrt er, jedes unserer Worte müsse so wahr sein, als hätten wir einen Eid geschworen. Den Eid lehnt er ab. Ähnlich lehrt Epiktet: Den Eid solle man, wenn möglich, ganz vermeiden!189

Über die Reinheit sagt er, daß es keine reinen und unreinen Gegenstände gibt, sondern nur innere Haltungen, die etwas rein oder unrein machen.190 Dazu sei an einen dem Phokylides zugeschriebenen Ausspruch erinnert: Nicht Reinigungen machen den Körper rein, sondern die Seele.191

Über das Gebet lehrt er, daß viele Worte überflüssig sind. Denn Gott weiß im voraus, was die Menschen brauchen.192

Über Spenden lehrt er, man solle nicht geben, um Ansehen bei den Menschen zu erlangen, sondern so, als wüßte die linke Hand nicht, was die rechte tut.193

Über religiöse Fastenbräuche lehrt er, man solle sie nicht einhalten, weil die anderen Menschen sie erwarten, sondern im Verborgenen, wo nur Gott hinsieht.194

Über den Sabbat lehrt er, man dürfe ihn brechen, wenn man helfen kann oder wenn ein dringender Grund vorliegt.195

Soweit klang alles harmlos. Manches mußte den Römern sympathisch sein. Etwa die Bereitschaft, sich nicht streng an die Sabbatregeln zu halten. Zu vielen Punkten gab es ähnliche Ansichten bei Griechen und Römern. Jesus war gut getarnt. Zu gut! Das Bild von ihm war zu harmlos. Metilius würde fragen: Und warum regt man sich über diesen sanften Wanderphilosophen auf? Warum erregt er solchen Widerspruch? Ich mußte, um glaubhaft zu erscheinen, auch über provokative Züge seiner Verkündigung berichten.