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Damit betrat ich ein schwieriges Feld: Provokativ war die Forderung Jesu, Verhalten und Einstellung radikal zu ändern, weil mit der Gottesherrschaft alles anders werde. Wie konnte ich das einem Römer klar machen, für den nicht die Herrschaft Gottes, sondern die Herrschaft Roms das Ziel der Weltgeschichte war? Natürlich glaubten auch die Römer an die Herrschaft der Götter. Wo Römer herrschten, herrschten römische Götter. Aber daß einmal die Herrschaft eines fremden Gottes kommen solle, um alle anderen Herrschaften abzulösen – das war für sie ein fremder Gedanke. Das war Aufruhr und Rebellion. Ich nahm mir daher vor, mich über die Gottesherrschaft ganz vage auszudrücken und fuhr fort zu schreiben:

 

Jesus lehrt seine Gebote, um die Menschen der Herrschaft Gottes zu unterstellen. Er meint, daß die Gottesherrschaft im Verborgenen vorhanden ist. Sie breitet sich in den Herzen der Menschen aus. Sie führt zu einer neuen Beurteilung der Mitmenschen, die von den üblichen Urteilen abweicht.

Die gängige Meinung ist: Kinder sind weniger wert als Erwachsene. Jesus aber sagt: »Laßt die Kinder zu mir kommen, denn ihnen gehört die Gottesherrschatt.« Nach ihm kommen Erwachsene nur in sie hinein, wenn sie wieder wie Kinder werden.196

Die gängige Meinung ist, daß man Zöllner und Prostituierte verachten muß. Jesus aber sagt: »Zöllner und Prostituierte werden vor anderen in die Gottesherrschaft kommen.«197

Die gängige Meinung ist, daß Ausländer und Ungläubige schlechte Menschen und von der Gottesherrschaft ausgeschlossen sind. Jesus aber sagt: Viele Fremde werden mit Abraham, Isaak und Jakob in der Gottesherrschaft zu Tisch liegen.198

Die gängige Meinung verachtet sexuell impotente und kastrierte Menschen. Jesus aber sagt: Es gibt Kastrierte von Geburt, durch menschlichen Eingriff und um der Gottesherrschaft willen. Er verachtet sie nicht.199

Die gängige Meinung ist, daß Menschen ohne Durchsetzungsvermögen nichts gelten, weil sie immer zu kurz kommen. Jesus aber sagt: Glücklich sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Land besitzen.200

 

Ich glaube, ich hatte genug provozierende Aussagen gesammelt, um manche Aufregung um Jesus verständlich zu machen. Zugegeben, es waren Provokationen, die den Römern nicht weh taten. Um die Harmlosigkeit Jesu zu betonen, fügte ich abschließend hinzu:

 

Viele Sprüche Jesu erinnern an die Lehren bekannter Philosophen. So wenig die griechischen und römischen Philosophen für den Staat eine Gefahr darstellen, so wenig stellt Jesus eine Gefahr für ihn dar.

 

Ich las meinen Bericht noch einmal durch. War er zutreffend? Zweifellos! Alles was ich niedergeschrieben hatte, basierte auf Informationen über Jesus. Aber klang mein Bericht auch harmlos genug, um keinen unnötigen Verdacht gegen Jesus zu wecken?

Angenommen, jemand wollte Jesus bei den Römern denunzieren, so hätte er leichtes Spiel. Er mußte nur all das berichten, was ich verschwieg.

Ich verschwieg Jesu negative Äußerungen über die Familie: Daß er die Pflicht zum Begräbnis des eigenen Vaters verächtlich machte mit Worten wie »Laß die Toten ihre Toten begraben!«201 Bei meinen ganzen Studien hatte ich nirgendwo eine Analogie zu diesem harten Wort gefunden!

Ich verschwieg, daß Jesus staatliche Herrschaft als Unterdrükkung und Ausbeutung anprangerte: »Die Herrscher unterdrükken ihre Völker und mißbrauchen ihre Gewalt über sie. So aber soll es nicht unter euch sein!« War es nicht aufschlußreich, daß ich auch zu solchen Aussagen keine Analogien fand? Nirgendwo ein Wort, das sagte: Wer der Erste sein will, soll der Letzte und Sklave aller sein!202 Nirgendwo eine Aussage, die in ähnlicher Weise die Grundlage des Staates in Frage stellte!

Ich verschwieg Jesu Kritik an unseren religiösen Institutionen: Jesus hatte geweissagt, daß der jetzige Tempel verschwinden werde. Ein neuer, von Gott geschaffener Tempel würde an seine Stelle treten!203 Deutlicher konnte man nicht sagen, daß die jetzigen Priester und Tempelbeamten Gott gegen sich hatten! Diese Angriffe gegen den Tempel waren Angriffe gegen die wichtigsten Institutionen unserer Religion!

Reichte all das nicht aus, um Jesus verhaften zu lassen? Er war kein harmloser Wanderphilosoph! Er machte nicht direkt Rebellion. Aber er war ein Prophet, der davon durchdrungen war, daß Gott bald eine große Rebellion gegen die Herren dieser Welt machen würde. Reichte das nicht für Verhaftung und Todesurteil?

Zweifellos: Jesus war gefährdet. Um so mehr spürte ich das Bedürfnis, ihn zu schützen. Er lehnte Gewalt ab. Er predigte keinen Haß gegen die Römer. Die Zeloten hielten Distanz zu ihm. Zwar war er ein Rebell. Aber er rebellierte wie Johanna, nicht wie Barabbas. Gewiß kamen scharfe Worte aus seinem Mund. Aber noch einprägsamer waren seine Geschichten: kleine Dichtungen voll Güte und Menschlichkeit. Über sie könnte ich für Metilius noch etwas aufschreiben. Der interessierte sich ja für Bücher und Literatur. Also setzte ich mich noch einmal hin und begann auf einem neuen Papyrusblatt mit der Überschrift:

ÜBER JESUS ALS DICHTER

Jesus ist ein Bauerndichter, der die jüdische Literatur um wunderbare kleine Geschichten bereichert hat. Diese Geschichten setzen beim Hörer keine städtische Bildung voraus. Sie erzählen von Saat und Ernte, Suchen und Finden, Vätern und Söhnen, Herren und Sklaven, Gastgebern und Gästen. Obwohl sie aus dem gewöhnlichen Leben stammen, wollen sie etwas Ungewöhnliches sagen: Daß Gott ganz anders ist, als wir uns ihn vorstellen. Seine Geschichten sind Gleichnisse für das Verhältnis von Gott und Mensch.

Daß Jesus seine Lehre in Erzählungen kleidet, hängt mit der Überzeugung unseres Volkes zusammen, daß man sich von Gott kein Bild machen kann. Man kann ihn nur mit etwas anderem vergleichen. Und auch das ist oft unangemessen. Denn kein einzelnes Ding, kein Mensch, kein Wesen kann als Gleichnis Gottes dienen – nur ein Geschehen kann etwas von ihm anschaulich machen. Nur Geschichten können Gleichnisse von ihm sein.

Das hängt mit einer zweiten Überzeugung zusammen. Wir glauben, daß wir Gott nur finden können, wenn wir unsere Einstellungen verändern. Gleichnisse von Gott sind daher Geschichten, in denen sich etwas verändert; oder genauer: Gleichnisse sind Geschichten, in die der Hörer so verwickelt wird, daß er sich ändert. Nur dann wird er etwas von Gott spüren.

Andere Völker erzählen von ihren Göttern Mythen, die in eine andere Welt hineinführen. Wir aber erzählen unsere eigene Geschichte. Wir erzählen von Geschehnissen in dieser Welt. Auch Jesus erzählt vom alltäglichen Leben der Menschen. Er meint, daß Gott in diesem alltäglichen Leben nahe ist. Er will für ihn die Augen öffnen.

Wollte man Jesus in die allgemeine Literaturgeschichte einordnen, so wäre er in der Nähe der Fabeldichter zu suchen. Auch sie erzählen kurze Geschichten, die für jedermann verständlich sind. Auch ihre Erzählungen sind bildlich gemeint. Manchmal hat Jesus Fabeln neu gestaltet. Ich nenne ein Beispieclass="underline" die Fabel vom unfruchtbaren Baum. Ein Vater tadelt seinen Sohn, weil er nichts taugt, und erzählt ihm folgende Fabeclass="underline"

»Mein Sohn, du bist wie ein Baum, der keine Früchte brachte, obwohl er beim Wasser stand, und sein Herr war genötigt, ihn abzuhauen. Er aber sagte zu ihm: Verpflanze mich, und wenn ich auch dann keine Frucht bringe, so haue mich ab. Sein Herr sagte jedoch zu ihm: Als du am Wasser standest, brachtest du keine Frucht, wie willst du Frucht bringen, wenn du an anderer Stelle stehst?«204

Bei Jesus wird daraus folgende Geschichte:

»Ein Mann hatte in seinem Weinberg einen Feigenbaum; aber als er Früchte suchte, fand er nie etwas daran. Schließlich sagte er zum Gärtner: ›Sieh her, drei Jahre warte ich nun schon darauf, daß dieser Feigenbaum Früchte trägt, aber ich finde keine. Hau ihn um, was soll er für nichts und wieder nichts den Boden aussaugen?‹ Aber der Gärtner meinte: ›Herr, laß ihn doch noch ein Jahr stehen. Ich will den Boden ringsherum gut auflockern und düngen. Vielleicht trägt er nächstes Jahr Früchte. Wenn nicht, dann laß ihn umhauen.‹«205