Anders als in den Fabeln sprechen in den Gleichnissen Jesu keine Pflanzen und Tiere. Nur Menschen sprechen. Ein weiterer Unterschied ist: Viele Fabeln versuchen, die Menschen auf die Härte des Lebens einzustimmen. Sie sagen: Wenn man nicht aufpaßt, geht man zugrunde, wird gefressen oder übers Ohr gehauen. In den Gleichnissen Jesu haben die Menschen eine Chance, auch dann, wenn andere schon über sie das Todesurteil gesprochen haben.
Ein andermal hat Jesus das Motiv vom Vater und den zwei Söhnen zu einer neuen Erzählung gestaltet. Zunächst eine Variante des Motivs bei unserem Philosophen Philo:
»Ein Vater hatte zwei Söhne, einen guten und einen bösen. Der Vater aber wollte den bösen segnen, nicht weil er den bösen dem guten vorzog, sondern weil er wußte, daß der gute schon durch sich selbst eines Segens würdig war. Der Böse aber hatte als einzige Hoffnung auf ein gelungenes Leben die Weissagung des Vaters. Ohne sie mußte er zum unglücklichsten aller Menschen werden.«206
Es kursieren noch andere Fassungen dieses Motivs. Immer zieht der Vater den schlechteren dem besseren Bruder vor. Jesus hat aus solchem Stoff eine seiner schönsten Dichtungen geschaffen:
Ein Mann hatte zwei Söhne. Und der jüngere von ihnen sagte zum Vater: Vater, gib mir den Teil des Vermögens, der mir zukommt! Da verteilte er seinen Besitz unter sie. Bald danach nahm der jüngere Sohn alles mit sich und zog in ein fernes Land. Dort vergeudete er sein Vermögen durch ein zügelloses Leben. Nachdem er alles durchgebracht hatte, kam eine schreckliche Hungersnot über das Land, und er fing an, Mangel zu leiden. Und er ging hin und machte sich von einem der Bürger jenes Landes abhängig; der schickte ihn auf seine Felder, Schweine zu hüten. Vor Hunger hätte er gerne seinen Bauch mit den Schoten gefüllt, die die Schweine fraßen; aber niemand gab sie ihm. Da ging er in sich und sprach: Wieviele Tagelöhner meines Vaters haben Brot im Überfluß, ich aber komme hier vor Hunger um! Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir; ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heißen; stelle mich als einen deiner Tagelöhner ein! Und er machte sich auf und ging zu seinem Vater. Als er aber noch fern war, sah ihn sein Vater und fühlte Erbarmen, lief hin, fiel ihm um den Hals und küßte ihn. Der Sohn aber sprach zu ihm: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir; ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heißen. Doch der Vater sagte zu seinen Knechten: Bringet schnell das beste Kleid heraus und zieht es ihm an und gebt ihm einen Ring an die Hand und Schuhe an die Füße, und holt das gemästete Kalb, schlachtet es und lasset uns essen und fröhlich sein! Denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden, er war verloren und ist wiedergefunden worden. Und sie fingen an, fröhlich zu sein. Sein älterer Sohn aber war auf dem Felde; und als er kam und sich dem Haus näherte, hörte er Musik und Reigentanz. Und er rief einen der Knechte herbei und erkundigte sich, was das sei. Der aber sagte ihm: Dein Bruder ist gekommen, und dein Vater hat das gemästete Kalb geschlachtet, weil er ihn gesund wieder hat. Da wurde er zornig und wollte nicht hineingehen. Doch sein Vater kam heraus und redete ihm gut zu. Er aber erwiderte dem Vater: So viele Jahre diene ich dir und habe nie ein Gebot von dir übertreten; und mir hast du nie einen Bock gegeben, damit ich mit meinen Freunden fröhlich wäre. Nun aber dieser dein Sohn gekommen ist, der deine Habe mit Prostituierten aufgezehrt hat, hast du ihm das gemästete Kalb geschlachtet. Da sagte er zu ihm: Kind, du bist alle Zeit bei mir, und alles, was mein ist, ist dein. Du solltest aber fröhlich sein und dich freuen; denn dieser dein Bruder war tot und ist lebendig geworden, und war verloren und ist wiedergefunden worden.«207
Jesus hat in dieser Art viele Gleichnisse von Gott und den Menschen erzählt. Sie lehren, daß Gott anders ist, als wir ihn uns vorstellen, und daß sich der Mensch deshalb ganz anders verhalten darf, wenn er in Übereinstimmung mit Gott handeln will. Aus all diesen Gleichnissen geht hervor, daß Jesus ein Dichter ist, der zu Liebe und Toleranz ermahnt. Seine Gleichnisse und Sprüche werden noch lange gelesen und geliebt werden.
Alles, was ich über Jesus geschrieben hatte, stimmte. Er war ein Wanderphilosoph und Dichter. Aber mir war klar: Er war mehr. Er war ein Prophet. Und das war schwer, Ausländern klarzumachen. Sie stellten sich unter einem Propheten jemanden vor, der Voraussagen über die Zukunft macht. Solche Propheten hatten auch andere Völker. Aber unsere Propheten waren etwas Einzigartiges. In welchem Volk gab es Propheten, die dem eigenen Volk den Untergang androhten? Welches Volk glaubte an einen Gott, neben dem es keinen anderen gab? Die Einzigartigkeit unserer Propheten hing mit der Einzigkeit unseres Gottes zusammen! Darüber mußte ich immer wieder nachdenken! Hier lag vielleicht der Schlüssel zum Verständnis Jesu!
Nur unser Gott verlangte gleichzeitig mit seiner Verehrung Abwendung von allen anderen Göttern. Nur unser Gott verlangte mit seiner Anerkennung eine radikale Veränderung unseres Verhaltens.
Überall in der Welt setzen sich die Starken durch. Unser Gott aber hat Schwache erwählt: Er hat flüchtenden Sklaven aus Ägypten geholfen und sie zu seinem Volk gemacht. Er hat den in Babylon deportierten Kriegsgefangenen beigestanden. Hinwendung zu diesem Gott bedeutet: Hinwendung zu den Armen und Schwachen. Und deswegen fühlen sich die Starken und die Herrscher von unserem Gott bedroht und hassen uns.
Selbst wenn es mir gelänge, Metilius klarzumachen, daß Jesus ein Prophet dieses Gottes war, – mußte er Jesus nicht erst recht ablehnen? Mußte er nicht aus unseren Schriften gelernt haben, daß Propheten immer in die Politik eingegriffen haben? Mußte er nicht merken: Wenn Jesus ein Prophet war, dann war er für Politiker gefährlich!
Was haben denn die Propheten getan? Sie haben unser Volk dazu getrieben, den einen und einzigen Gott anzuerkennen und unser Verhalten zu ändern. Sie taten es, wie man Kinder erzieht: durch Androhung von Strafen und durch Verheißungen. Sie waren dabei schroff und unerbittlich.
Auch Jesus drohte mit einem Strafgericht über diese Welt. Ein geheimnisvoller »Mensch« werde alle Menschen richten. Dies Gericht würde plötzlich und unvorhersehbar über diese Welt hereinbrechen – nicht nur über die Bösewichter und Schurken, sondern über die normal dahinlebende Welt:
Wie in den Tagen Noahs, so wird es sein in den
Tagen des Menschen:
Sie aßen, sie tranken, sie heirateten und
ließen sich heiraten,
bis zu dem Tag, an dem Noah in die Arche stieg
und die Flut kam und alle vernichtete.
Ebenso wie in den Tagen Lots:
Sie aßen, sie tranken, sie kauften und verkauften,
pflanzten und bauten.
An dem Tag aber, an dem Lot aus Sodom ging,
regnete es Feuer und Schwefel vom Himmel
und vernichtete alle.208
Dieses Gericht sollte jeden einzelnen treffen, nicht bestimmte Gruppen oder Völker. Es würde Menschen trennen, die eng zusammen lebten.
In jener Nacht werden zwei auf einem Bett liegen,
der eine wird mitgenommen,
der andere wird liegengelassen.