Als das die anderen sahen, waren sie bestürzt. Sie liefen zu ihrem Herrn und erzählten ihm, was geschehen war. Er ließ den Mann kommen und sagte: ›Was bist du für ein böser Mensch! Ich habe dir deine ganze Schuld erlassen, weil du mich darum gebeten hast. Hättest du nicht auch Erbarmen mit deinem Mitverwalter haben können, so wie ich es mit dir gehabt habe?‹
Dann übergab er ihn voller Zorn den Folterknechten zur Bestrafung, bis die ganze Schuld zurückgezahlt wäre.«229
Metilius hatte aufmerksam zugehört. Etwas skeptisch fragte er: »Das ist ein Gleichnis. Fordert es wirklich dazu auf, Geldschulden zu vergeben?«
»Na ja«, sagte ich. »Aber die kleinen, verschuldeten Leute, denen Jesus seine Gleichnisse erzählt, werden unwillkürlich an ihre Geldschulden denken müssen.«
Er rollte die Papyrusblätter mit meinen Berichten zusammen und verstaute sie sorgsam in einer Lederhülle. Metilius betrachtete den offiziellen Teil meines Besuches offenbar als beendet. Aber er entließ mich noch nicht. Vielmehr ließ er sich Zeit, die Lederhülle mit meinen Berichten in die Fächer eines kleinen Schranks zu schieben und durchs Fenster einen kurzen Blick auf die Straße zu werfen, in der sich wie jedes Jahr vor dem Passafest die Pilger drängten. jetzt kam er zu mir herüber, legte seine Hand auf meine Schulter und stellte eine Frage, die ich in diesem Moment nicht erwartet hatte:
»Andreas, warum befreit ihr eure großartige Philosophie von Gott nicht von allem unwichtigen Beiwerk?«
Ich war sprachlos. Hatte Metilius jetzt nichts Wichtigeres zu tun, als mit mir über religiöse Fragen zu diskutieren? Er fuhr fort:
»Du hast mir einen radikalen Reformvorschlag vorgelegt, der auf eine Veränderung unserer Politik hinausliefe. Darf ich dir jetzt aus meiner Sicht sagen, was ihr in eurer Religion ändern könntet?«
Metilius setzte sich auf den Stuhl mir gegenüber. Er konzentrierte sich.
»Ich traf seit unserem letzten Gespräch einen Juden aus Alexandrien, mit dem ich mich lange über eure Religion unterhalten habe. Nach seiner Meinung sind die Gesetze symbolisch zu verstehen. Das Gebot zur Sabbatruhe soll sagen, daß der Mensch sich nur in innerer Ruhe Gott zuwenden kann. Die Beschneidung sei ein Symbol für die Beherrschung von Leidenschaft und Trieben. Weder Sabbat noch Beschneidung müsse man im wörtlichen Sinne praktizieren.230 Wenn sich solche Gedanken durchsetzen, könnte das Judentum eine einflußreiche Philosophie werden. Viele würden ihr anhängen, die einen Gott verehren wollen, der uns zur Güte gegenüber den Schwachen verpflichtet, die aber durch Beschneidung und Sabbatregeln jetzt abgehalten werden.«
»Dieser alexandrinische Jude spricht für eine verschwindend kleine Gruppe im Judentum«, sagte ich vorsichtig.
Metilius machte eine wegwerfende Handbewegung.
»Was auch immer ein paar Juden in Alexandrien meinen – mich interessiert: Was meinst du?«
Ich schaute ihm fest in die Augen. War das ein Verhör? Metilius schien meine Gedanken zu raten.
»Mich interessiert das nicht als römischer Beamter. Mich interessiert es persönlich. Ich möchte Klarheit über eure Philosophie haben.«
»Das Problem ist«, begann ich zögernd, »daß der jüdische Glaube keine Philosophie ist. Nicht etwas, wovon man nur in seinem Herzen überzeugt ist, sondern etwas, was man sichtbar tut. Er ist eine Lebensform. Wir freuen uns darüber, Gott in vielen kleinen und großen Handlungen verehren zu dürfen. Auch durch Einhaltung von Speisegeboten und die Beachtung vieler kleiner Riten, die wir überliefert bekommen haben. Es ist nicht genug, die Gebote Gottes zu hören und ihren tieferen Sinn zu verstehen, man muß sie auch tun!«231
»Aber all diese Gebote enthalten viel, was den Verkehr zwischen Juden und Nicht-Juden erschwert. Warum unterscheidet ihr nicht zwischen zwei Gruppen von Geboten: den moralischen Geboten, die für das Zusammenleben von Menschen unbedingt erforderlich sind – und den rituellen Geboten, die auf Tradition beruhen, aber nicht notwendig mit dem Glauben an den einen und einzigen Gott verbunden sind? Zielt nicht die Verkündigung Jesu in diese Richtung?«
»Jesus sagt nirgendwo, daß man die Kinder nicht beschneiden soll! Nirgendwo stellt er den Sabbat grundsätzlich in Frage!«
»Aber könnte man nicht durch ihn auf solche Gedanken kommen?«
»Leute wie dieser alexandrinische Jude könnten schon auf solche Gedanken kommen. Sie würden sich aber bei uns nicht durchsetzen können. Du unterschätzt, wie wichtig uns die vielen tradierten Gebote sind – auch diejenigen, die wir nur tun, weil sie in unserer Tradition enthalten sind. Wir versichern uns durch ihre Erfüllung gegenseitig, öffentlich und sichtbar, daß wir unserem Glauben treu sind.«
»Aber könnte man das nicht auf andere Weise tun? Als ich einen eurer großen Lehrer fragte, worauf es denn ankäme, sagte er mir: ›Was dir unliebsam ist, das tu auch deinem Nächsten nicht. Dies ist die ganze Thora, das andre ist ihre Auslegung; geh hin und lerne das!‹232 Wozu dann noch die vielen anderen Gebote? Warum Beschneidung und Speisegebote?«
Ich mußte nachdenken. War Metilius wirklich an unserer Religion interessiert? Oder suchte er nur nach neuen Strömungen in ihr, die ein konfliktloseres Verhältnis von Juden und Heiden ermöglichten? Wollten die Römer solche Strömungen aus politischen Gründen fördern? Endlich sagte ich:
»Was geschähe, wenn wir erlaubten, daß Juden Frauen heiraten, die unseren Glauben nicht teilen? Oder daß unbeschnittene Heiden jüdische Frauen heiraten könnten?233 Der heidnische Ehepartner würde weiter seine alten Götter verehren. Er würde die Kinder in seinem Glauben erziehen. Unser Gott würde zu einem Gott neben anderen, selbst wenn er als höchster Gott anerkannt würde. Der Glaube an den einen und einzigen Gott kann sich nur zusammen mit einer Lebenspraxis erhalten, die jeder übernehmen muß, der in eine jüdische Familie heiratet. Solange unser Glaube so radikal von unserer Umgebung abweicht, müssen wir auch in unserer Lebensweise abweichen.«
»Aber sollen nicht einst alle Völker den lebendigen Gott anerkennen?«
»Darauf hoffen wir.«
Metilius erhob sich und wies mit der Hand durchs Fenster nach draußen:
»Und diese Pilger aus allen Ländern werden dann nicht nur Juden sein, sondern Menschen aus allen Völkern? Alle hätten Zugang zum Tempel?«234
»Schon heute ist der Tempel für jeden offen, der sich zu Gott bekehrt.«
Metilius dankte für das Gespräch. Er versprach, meine Idee einer Amnestie Pilatus vorzutragen. Wenn nötig, werde Pilatus mich selbst anhören. Dann verabschiedete er mich. Wenn alle Römer so wären wie Metilius! Unverkennbar war: Er hatte seit unserer ersten Begegnung immer mehr Verständnis für unsere Religion gewonnen. War auch er ein Mensch, der zwischen den Fronten stand?
Lieber Herr Kratzinger,
über Ihren freundlichen Brief habe ich zunächst schmunzeln müssen: Sie haben tatsächlich meine biographischen Daten nachgeschlagen und entdeckt, daß ich 1968 im rebellionsfähigen Alter war. Ja, ich bin durch diese rebellische Zeit geprägt. Ich habe das nie geleugnet. Und möchte es auch nicht deswegen leugnen, weil mir die damaligen Taktlosigkeiten gegenüber der älteren Generation zuwider waren.
Der Inhalt Ihres Briefes hat mich nachdenklich gemacht. Mir war beim Schreiben nicht bewußt – was Ihnen beim Lesen aufgegangen ist -, daß ich die Erfahrungen meiner Generation verarbeite: die überschwenglichen Hoffnungen auf Reformen, das Scheitern an vorgegebenen Machtstrukturen und an eigenen Illusionen, die große Ernüchterung bei den einen, das Abgleiten in Gewalt und Terror bei den andern. Ist mein Jesusbild eine Projektion meiner Generation? Es ist taktvoll, daß Sie mich eine Konsequenz selbst ziehen lassen: Es könnte veraltet sein!
Eins ist mir freilich wichtig: Die Erfahrungen meiner Generation schlagen sich in der Rahmenhandlung nieder. Das Jesusbild wird davon weniger berührt. Es ist offen für verschiedene Deutungen. Es gewinnt erst aus der Perspektive des Andreas Eindeutigkeit. Die Struktur der Erzählung ist bewußt so angelegt, daß keiner auf den Gedanken kommen kann, hier würde ein Bild von »Jesus an sich« wiedergegeben. Es ist »Jesus« aus der Perspektive bestimmter sozialer Erfahrungen.