Ist diese Perspektive willkürlich? Die Rahmenhandlung spielt in einer Welt, die aus Josephus historisch rekonstruiert wurde: So konnte man Jesus damals erleben. Die Frage ist sogar, ob man ihn nicht so erleben muß, wenn man ihn im Lichte der biblischen Traditionen von Exodus und Exil deutet? Und ob man ihn nicht so sehen muß, wenn man unseren Exodus aus selbstverschuldeter Unmündigkeit bejaht: die »Aufklärung«? Würde nicht etwas Unersetzliches verlorengehen, wenn sich Religion wieder auf das Gespräch zwischen Gott und der Seele zurückzöge?
Im übrigen nehme ich an, daß auch Sie einmal im rebellionsfähigen Alter waren. Wie war das denn bei Ihnen? Natürlich brauchen Sie auf diese indiskrete Frage nicht zu antworten.
Ich bleibe
mit Dank und herzlichen Grüßen
Ihr
Gerd Theißen
16. KAPITEL
Die Angst des Pilatus
Der nächste Tag war der Tag vor dem Passafest. Zu meiner Überraschung wurde ich in aller Frühe zu Pilatus bestellt. Es sei dringend, hatte der Bote gesagt. Ich eilte ins Prätorium. Wollte Pilatus eine Amnestie aussprechen? Waren meine Beziehungen zu Barabbas bekannt geworden? Ich schwankte zwischen Hoffnungen und dunklen Vorahnungen. Es wurde ein schlimmer Tag. Ich wollte, ich hätte ihn nie erlebt.
Pilatus sah ernst aus. Er begrüßte mich freundlich und führte mich in einen kleinen Raum mit nur einem Fenster. Seine Leibgarde schickte er hinaus. Sie sollte vor der Tür warten, bis er sie rief. Offenbar wollte Pilatus etwas besprechen, das nicht für jedermanns Ohr bestimmt war. Als wir allein waren, begann er:
»Ich habe deinen Vorschlag einer Amnestie und eines Schuldenerlasses mit Interesse zur Kenntnis genommen. Er erinnert mich an Ideen, denen ich in meiner Jugend angehangen habe – an Solons Schuldenerlaß für die Athener Bürger und an den Kampf unserer beiden Gracchen um Verminderung sozialer Gegensätze. 235 Du siehst, daß ich deine Ideen nicht einfach ablehne. Aber zur Sache: Eine allgemeine Amnestie überschreitet meine Kompetenz. Sie wäre politisch von so großer Bedeutung, daß sie nur der Kaiser selbst aussprechen könnte.«
Ich konnte meine Enttäuschung nicht verbergen. Pilatus fuhr fort:
»Was aber in meiner Macht steht, ist eine Amnestie für Einzelfälle. Zu den drei vor kurzem inhaftierten Zeloten ist ein weiterer Fall gekommen. In der Nacht geschah eine vierte Festnahme. Der Fall soll heute noch verhandelt werden. Du bist mit ihm vertraut. Es handelt sich um Jesus von Nazareth. Er wird verdächtigt, messianische Bewegungen hervorzurufen. Der Hohepriester meint, es sei das beste, den Fall vor dem Passa zu erledigen, damit er nicht viel Aufsehen hervorruft.«
Ich war zutiefst erschrocken. Sie hatten Jesus inhaftiert! Mein Herz klopfte. Mein Körper zitterte. Alles hatte sich bedrohlich zugespitzt.
Pilatus fuhr fort: »Ich habe deine Aufzeichnungen über Jesus gelesen. Danach würde ich ihn als harmlos einstufen. Philosophen und Dichter sollen in diesem Lande leben dürfen. Aber wenn er ein Messiasanwärter ist, dann ist er für den Staat eine Gefahr!«
Es kam jetzt auf jedes Wort an. Wie gut, daß ich in Gedanken immer wieder alle Argumente durchgespielt hatte, mit denen ich Jesus verteidigen könnte. Ich begann gleich mit dem Hauptargument:
»Eine zentrale Lehre Jesu ist, nicht dem Bösen zu widerstehen. Vielmehr soll man die linke Backe hinhalten, wenn man auf die rechte geschlagen wird. So jemand ist ungefährlich!«
Pilatus blieb unbeeindruckt: »So ein Verhalten gefährdet den Staat nicht im üblichen Sinne. Aber es kann ihn in tiefe Verlegenheit stürzen, ja, es kann ihn hilfloser machen als ganze Kohorten von aufständischen Zeloten.«
»Aber wenn jeder im Lande sich wie Jesus verhielte, dann könnte es keine Widerstandskämpfer mehr geben!« warf ich ein.
»Ich habe aus Erfahrung gelernt. Was du sagst, erinnert an eine folgenschwere Begebenheit am Anfang meiner Regierungszeit.236 Als ich von Tiberius nach Judäa gesandt worden war, ließ ich Kaiserbilder, die als Feldzeichen dienten, nachts heimlich nach Jerusalem hineinbringen. Am folgenden Tag rief das bei den Juden große Unruhe hervor. Sie waren überzeugt, ihr Gesetz würde mit Füßen getreten; es verbietet, daß in der Stadt ein Bildnis aufgestellt wird. Nicht nur die Stadtbewohner empörten sich, auch die Landbevölkerung strömte in großen Scharen zusammen. Sie machten sich auf den Weg zu mir nach Cäsarea und flehten mich an, die Zeichen aus Jerusalem zu entfernen und ihre väterlichen Gesetze unangetastet zu lassen. Ich weigerte mich. Darauf warfen sie sich rings um meinen Palast auf ihr Angesicht und verharrten fünf Tage und ebenso viele Nächte in dieser Haltung, ohne von der Stelle zu weichen. Tags darauf setzte ich mich in der groϐen Rennbahn auf meinen Richterstuhl und ließ das Volk herbeirufen, als wolle ich ihm dort eine Antwort geben. Dann gab ich meinen Soldaten verabredungsgemäß ein Zeichen, die Juden zu umzingeln. Der unerwartete Anblick der dreifachen Schlachtreihe, die sie umstellte, machte die Juden starr vor Entsetzen. Ich drohte, sie zusammenhauen zu lassen, wenn sie die Kaiserbilder nicht dulden wollten und gab den Soldaten schon einen Wink, die Schwerter blank zu ziehen. Die Juden jedoch warfen sich wie auf Verabredung hin dichtgedrängt auf den Boden, boten ihren Nacken dar und schrien, sie seien eher bereit zu sterben, als daß sie die väterlichen Gesetze überträten. Zutiefst erstaunt über die Glut ihres Glaubens gab ich den Befehl, die Feldzeichen aus Jerusalem zu entfernen.
Andreas, ich begann meine Amtszeit mit einer Niederlage – nicht gegen ein bewaffnetes Heer oder gefährliche Widerstandskämpfer, sondern gegen eine Schar wehrloser Menschen. Sie boten mir nicht nur die Backe dar, sondern den Nacken. Sie forderten mich nicht nur auf, sie zu schlagen, sondern sie zu töten. Dieser unglückliche Anfang meiner Regierungszeit hat mir viele Probleme geschaffen. Ich mußte immer besorgt sein, meine Autorität aufrechtzuerhalten. Glaub mir: Ein Staat kann gegenüber Leuten, die sich demonstrativ wehrlos verhalten, hilfloser sein als gegenüber Legionen von Soldaten.«
»Aber hat dieser Jesus von Nazareth nicht gesagt: Widersteht nicht dem Bösen!«
»So, hat er das? Aber er hält sich selbst nicht an seine Lehre. Vor ein paar Tagen ist er als Unruhestifter im Tempelhof aufgefallen. Er hat Händler aus ihm vertrieben, Geldwechslern und Taubenverkäufern die Tische umgestürzt. Das war Gewalt gegen Personen und Sachen!237 Ist er nicht doch ein Zelot?«
»Aber er hat sich eindeutig von den Zeloten distanziert. Er hat erklärt: Man soll dem Kaiser geben, was des Kaisers ist, und Gottes, was Gottes ist.«238
»Ja, ja, ich habe deinen Bericht gelesen«, sagte Pilatus ein wenig verärgert, »aber ist das ein Gegenargument? Paßt diese Geschichte mit der Münze nicht ausgezeichnet zu jenem Vorfall im Tempelvorhof? Dort fiel er über die Geldwechsler her! Die sitzen dort im Tempel, um Geld aller Währungen in jene tyrischen Münzen einzutauschen, die allein im Tempel zugelassen sind. Tyrische Münzen zeigen zwar nicht den Kaiser, schlimmer noch: sie zeigen den tyrischen Gott Melkart, den wir Herakles nennen. Wenn man dem Kaiser die Silbermünzen zurückgeben soll, weil das Bild des Kaisers auf ihnen steht, dann wäre es nur logisch, wenn man fordert: Gebt dem Götzen Melkart seine Münzen zurück. Konkret: Gebt sie auf keinen Fall unserem Gott, jenem Gott im Jerusalemer Tempel, der keinen anderen neben sich duldet!«
»Aber könnte man nicht auch schließen: Dieser Jesus würde nichts dagegen haben, wenn man das heilige Geld des Tempels für so profane Zwecke wie Wasserleitungen benutzt?«
Pilatus lachte: »Unter diesem Aspekt könnte man seiner Lehre sogar etwas abgewinnen.«