Ich ließ nicht locker: »Und auch unter anderem Aspekt wirkt er im Sinne der Römer: Er lehnt die Steuerverweigerungskampagne der Zeloten ab.«
Pilatus zuckte die Achseln. »Was heißt das schon? Daß er Kaisermünzen dem Kaiser zurückgeben will, sagt nicht viel. Nach eurer Auffassung hat der Kaiser ja das Gebot eures Gottes übertreten. Er hat sich abbilden lassen. Die Bereitschaft, ihm seine frevelhaften Münzen zurückzugeben, beweist noch keine loyale Haltung zum Staat. Man könnte ebensogut Verachtung daraus lesen: Gebt diesem gotteslästemden Kaiser doch seine gotteslästerlichen Münzen zurück! Gott ist mehr als der Kaiser! So etwas spüre ich hinter dem Ausspruch Jesu.«
Ich mußte noch einmal von neuem ansetzen: »Und doch zeigt dieser Jesus den einzigen Weg aus der Krise unseres Landes.«
»Den einzigen Weg? Ich kann dir den einzig sicheren Weg genau sagen. Man müßte hier anstatt 3500 Soldaten zwei Legionen stationieren. Dann kämen die Leute zur Vernunft, und das Land hätte Frieden.«
»Aber es geht auch ohne Legionen!«
»Im Römischen Reich geht nichts ohne Legionen!«
»Aber bei uns ginge es. Ursache für die Unruhe im Land ist die Feindschaft zwischen den Einheimischen und den Fremden: den Griechen und Syrern in den benachbarten Stadtrepubliken und den Römern. Die einheimischen Juden fühlen sich unterdrückt und hassen die Fremden. Weil es ihnen wirtschaftlich schlecht geht, während die Städte der Fremden aufblühen, wird dieser Haß immer wieder neu genährt. Erst wenn er verschwunden ist, wird es keine Terroranschläge, keine gewaltsamen Demonstrationen und keine Unruhen mehr geben. Die Fremden sagen wiederum: Alles würde besser, wenn wir Juden ihre Götter anerkennen. Wenn wir einsähen, daß unser Gott in die große Familie der Götter gehört, dann würden auch wir in die große Familie der Völker aufgenommen werden, in der sich alle verwandt fühlen. Aber das ist kein Weg für uns. Unsere Religion verpflichtet uns dazu, an diesem einen Gott festzuhalten – auch wenn wir dadurch unter den Völkern isoliert werden. Nichts kann uns von unserem Glauben abbringen. Zumal auch eure besten Philosophen wissen, daß es nur einen einzigen Gott gibt.«
»Und wodurch will dieser Gott unsere Legionen ersetzen?«
»Jesus lehrt: Dieser Gott will, daß wir nicht nur die Einheimischen lieben, sondern auch die Fremden. Er sagt: Liebet eure Feinde! Dieser Gott läßt seine Sonne über alle scheinen: über Römer und Griechen, Syrer und Juden. Wir ahmen ihn nach, wenn wir die Grenzen zwischen den Völkern abbauen.«
»Unmöglich: Seine Feinde lieben! Bei uns weiß jedes Kind: Ein tüchtiger Mann tut für seine Freunde Gutes und fügt seinen Feinden Schaden zu!«239
»Jesus lehrt eine neue Lehre. Ist sie unmöglich, weil sie neu ist? Für uns Juden wäre sie ein Weg, an unserem Glauben festzuhalten und uns für alle Völker zu öffnen, wie alte Verheißungen vorausgesagt haben.240 Bei uns hat diese Lehre eine Chance!«
»Bei euch! Ihr braucht euer Land nicht zu verteidigen! Das besorgen wir Römer. Das besorgt unsere Armee! Ich habe lang genug in ihr gedient, um zu wissen: Nur wenn wir uns den Feinden tatkräftig entgegenstellen, können wir den Frieden wahren. Solche Lehren, wie sie Jesus lehrt, passen für ein unterworfenes Volk. Für uns sind sie nichts. Sie würden unsere Soldaten demoralisieren. Darum ist dieser Jesus ein Wirrkopf! Ein gefährlicher Wirrkopf, denn die Leute raunen, er sei der neue König!«
Ich widersprach: »Alles, was ich über Jesus erforscht habe, weist darauf hin, daß er kein König oder Messias sein will!«
»Aber andere hoffen, er werde der neue König sein! Darin liegt das Problem. Von mir aus kann sich jeder Schwachsinnige für einen König halten. Ich habe nichts dagegen. Gefährlich wird er erst, wenn andere an ihn glauben. Gefährlich wird er auch dann, wenn er persönlich nicht an seine Königswürde glaubt. Schon die Erwartung an ihn schafft Unruhe. Denn alle denken, jetzt kommt der große Umsturz. Auch harmlose Wirrköpfe werden dann zum Sicherheitsrisiko.«
»Gut, er ist vielleicht ein Wirrkopf. Aber deswegen sollte man ihn laufen lassen, nicht klammheimlich, sondern im Rahmen einer Amnestie. Selbst wenn die Leute von ihm erwarten, er würde der neue König werden – wie könnte er gefährlich werden, wenn er Lehren vertritt, die auf Soldaten demoralisierend wirken? Woher soll er seine Truppen nehmen? Und was taugen Truppen, die ihre Feinde lieben? Die sich nicht widersetzen?«
Pilatus hörte mir gar nicht zu. Er war aufgestanden und ans Fenster gegangen. Ich merkte, wie es in ihm arbeitete. Seine Augen blickten in meine Richtung – und schauten an mir vorbei. Seine Hände bewegten sich, als formulierte er. Aber kein Laut kam über seine Lippen. Schließlich ließ er sich seufzend auf seinen Stuhl nieder. Leise sagte er:
»Ich habe Angst...«
Erstaunt blickte ich ihn an. Noch einmal setzte er an:
»Ich habe Angst, daß mir diese Sache entgleitet. Nein, ich kann nicht!«
Sagte er das zu mir oder zu sich selbst? Pilatus versank ins Grübeln. Fast hatte ich den Eindruck, er hätte mich vergessen. Ich räusperte mich. Er schaute auf. Sein Blick war wieder klar. Seine Stimme klang fest und bestimmt:
»Ich hatte mir ernsthaft überlegt, ob ich diese drei Banditen, von denen ich anfangs sprach, zum Passafest freilassen sollte. Ja, ich war entschlossen, es zu tun. Dann aber erfuhr ich von dieser neuen messianischen Bewegung um Jesus. Das Fest kommt näher. Die Massen strömen nach Jerusalem. Die Lage kann kritisch werden. Das Risiko ist zu hoch.«
»Aber kann man die Hinrichtung der drei Banditen nicht verschieben? Wenn das Fest ruhig verliefe, sähe vielleicht manches anders aus!« Ich merkte schon während meiner Worte, wie aussichtslos mein Vorstoß war. Pilatus schüttelte den Kopf.
»Das Risiko ist zu hoch. Ich kann nicht alle freigeben. Das könnte mißverstanden werden – ja, es könnte einige Phantasten auf die Idee bringen, wir seien schwach. Dieser Eindruck darf nicht entstehen – gerade jetzt nicht, wo es im Volk gärt. Trotzdem will ich deinen Vorschlag aufgreifen. Nicht den ganzen Vorschlag. Aber einen Teiclass="underline" Einer soll freigelassen werden. Einer – das ist ein begrenztes Risiko. Ich kann sehen, ob Milde sich auszahlt.«
Noch einmal wagte ich einen Vorstoß: »Könnte man nicht zwei freigeben? Einen Zeloten und Jesus? Das wäre ein Entgegenkommen gegenüber verschiedenen Bevölkerungsteilen.«
»Nein, einer ist genug! Ich werde dem Volk überlassen, wen es wählt. Ich werde Jesus und einen Zeloten zur Wahl stellen. Dann kann ich sehen, wer mehr Anhänger im Volk hat. Dann wird sich erweisen, ob dieser Jesus mit seinen Ideen hier eine Chance hat. Oder ob ich auch weiterhin mit gewaltsamem Widerstand im Volk rechnen muß.«
Ich erschrak. Pilatus machte aus meiner Idee einer Amnestie zur Versöhnung des Volkes ein Experiment, um seine Machtchancen besser kalkulieren zu können. Ich spürte, wie sich mein Magen verkrampfte. Meine Kehle war wie zugeschnürt. Ein kalter Schauer jagte über meinen Rücken. Wieder fühlte ich mich in den Klauen des Tieres gefangen. Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen. Pilatus blickte mich an und sagte:
»Es wäre nur gerecht, wenn ich sie alle hinrichten ließe. Aber während unseres Gespräches ist mir aufgegangen, daß es zwei verschiedene Arten von Unruhestiftern gibt. Ich glaube, sie sind beide gefährlich. Ich werde testen, wer die Stimmung im Volk hinter sich hat. Du siehst, ich gebe deinen Ideen eine Chance.«
»Und wer soll neben Jesus zur Wahl gestellt werden?«
»Ein gewisser Barabbas.«
Ohnmächtig mußte ich zuschauen, wie die Dinge auf eine Katastrophe zuliefen. Ich konnte mein Entsetzen nicht länger verbergen. Ich zitterte am ganzen Körper. Pilatus schaute mich erstaunt an:
»Du kannst wirklich zufrieden sein. Du hast mich auf die Idee mit der Amnestie gebracht. Du hast mich überzeugt, daß hier verschiedene Bewegungen vorliegen. Zwischen ihnen muß man wählen. Diese Alternative ist deine Idee! Eine gute Idee!«
Ich beherrschte mich, so gut ich konnte, nahm meine ganze Kraft zusammen und dankte Pilatus dafür, daß er meinen Gedanken einer Amnestie aufgegriffen habe – während ich gleichzeitig diesen Gedanken verwünschte, der mich in einen ausweglosen Konflikt gebracht hatte. Pilatus fand noch anerkennende Worte für meine Arbeit. Es sei gut, daß er mich hatte sprechen können, bevor er über den Fall »Jesus« das Urteil sprechen müsse.